Leseprobe, eins:

New York. Am nächsten Morgen verlasse ich meine kleine Pension in der Nähe der Columbus University, Westside, ein paar Blocks von Harlem entfernt. Suche Zeitungen und ein Café. Als ich die Dicke vor einem Geldautomaten auf der Strasse liegen sehe, weiss ich sofort Bescheid. Eine solche Stellung in dieser Gegend ist eindeutig. Im selben Augenblick denke ich an den so rührigen Bürgermeister. Unübersehbar, ein paar Ganoven laufen noch frei herum in seiner Stadt.

„He’s got the money“, schreit mir ein Passant zu. He ist der Ganove, der die Dicke ansprang, ihr das soeben gezogene Geld entriss und – schon ein Häusereck weiter – im gestreckten Galopp das Weite sucht. Wir zwei wetzen hinterher. Ein dritter Passant, informiert von unseren Notrufen und ganz nahe dem Langfinger, stellt sich dem Dieb in den Weg. Tollkühn und vergebens. Denn die Fliehkraft des Flüchtigen ist rasanter als die Standfestigkeit des Tollkühnen. Auch der ist dick, aber nicht dick genug, um jetzt nicht gemeinsam mit dem augenblicklichen Geldbesitzer auf dem Trottoir zu landen. Nun liegt ein zweiter dicker Mensch am Boden. Der Dünne – unverdrossen mit einer Hand die Dollarnoten umklammernd – schnellt nach oben, überquert – von zwei Vollbremsungen begleitet – den Broadway und biegt unaufhaltsam in die 114th Street ein.

Als wir Sekunden später ankommen, ist niemand zu sehen. Ein Polizeistreife hält jaulend neben uns. Nachdem wir den zwei dicken Bullen – nun sind vier Dicke in den Fall verwickelt – erklärt haben, dass wir die Verfolger sind und nicht die „bad guys“, suchen wir gemeinsam. Nichts. Dann hilft ein Zufall. Ich erinnere mich plötzlich, dass ich gestern in dieser Strasse zwei Notizblöcke kaufte. Die banale Erinnerung blieb haften, denn das Schreibwarengeschäft lag in einem Keller, eine gusseiserne Wendeltreppe führte zu ihm hinunter. Ein paar Meter weiter sehe ich jetzt die Treppe, denke noch, das wäre ein gutes Versteck, schaue von oben hinunter, nobody, leer und still, das Geschäft noch verschlossen.

Und dann doch. Schon im Abwenden registriere ich eine winzige Bewegung. Der einzige Fehler des Gehetzten. Da seine Haut schwarz ist wie das Dunkel, in dem er sich versteckte, hatte ich ihn nicht bemerkt. Warum er aus dem Schutz der Dachrinne trat, hinter der er sich versteckt hatte, ich werde es nie wissen. Ich rufe die beiden Dicken, routinemässig wird der Mann verfrachtet. Sie verlangen noch meine Adresse für weitere Zeugenaussagen. Ich hinterlasse falsche Angaben.

Beim Frühstück geht es mir schlecht, plötzlich Gewissensbisse über meinen Eifer. Ein armer dünner Kerl mit zerfetzter Hose und sechzig geklauten bucks. Geklaut aus den dicken Fingern einer Frau, die sicher das Geld weniger intensiv benötigte als er. Beim nächsten Mal werde ich ihn nicht entdecken.

Leseprobe, zwei:

Am Greyhound-Schalter geht es mir wieder besser, entschieden besser. Weil ich mich anstellen muss und dabei freien Blick auf Dotty habe. Meine Reflexe sind zurück, auch der gestrige crash course zur Einführung der Familienwerte in mein Leben scheint spurlos vorübergegangen zu sein. Dotty sieht fabelhaft aus. Sofort ziehe ich sie aus. Sexier noch als ihr in einem schneeweißen, kurzärmeligen Hemd versteckter Oberkörper strahlt ihr Gesicht. Kein müder Angestelltenteint, kein genervter Kuhblick, dafür schnelle, wache Augen, ein Lachen für die Welt, die schmalen, sinnlichen Hände, mit denen sie die Tickets der Passagiere ausstellt.

Als ich an der Reihe bin, will ich ihr vorschlagen, mit mir ein gemeinsames Zimmer im nahen Days Inn zu nehmen. Denn Schmusen und Lieben wäre doch amüsanter als so dämliche Fragen anhören müssen wie: „Wann, bitte, geht der nächste Bus nach Williamsburg?“ Aber da ich neben meiner Lust noch zweitausend Jahre christliches Abendland mit mir herumtrage, außerdem Angst haben muss, dass mich Dotty – sie plagt garantiert 300 Jahre feinster amerikanischer Puritanismus – mit einer sexual harassment-Klage zur Polizei schickt, schlage ich ihr kein Doppelzimmer vor und stelle nur die so dämliche Frage: „Wann, bitte, geht der nächste Bus nach Williamsburg.“

Glück im Unglück, denn fünfzehn Minuten später ist Dotty außer Sichtweite. Mit dem Rucksack und einer frischen Frustbeule steige ich ein, die Tür schließt sich, Dotty strahlt längst wieder einen anderen an, hinter den Stadtgrenzen beginnt das Schaukeln, ich heile.

Leseprobe, drei:

Big Sur, Kalifornien: Henry Miller wusste es von Anfang an. So viele taugen nicht zur Freiheit, nicht zur Einsicht. Die Freiheit, zwischen fünfundzwanzig Hamburger-Sorten zu wählen und sich die Haare lila färben zu dürfen, interessierte ihn nicht. Wie sein deutscher Lieblingsschriftsteller Hermann Hesse notierte er oft das Wort „Eigensinn“, Eigen-Sinn. Und besassen die vielen ihn einmal, einmal jung und hungrig, dann nur kurzzeitig, dann nur, um hinterher als umso trägere und komfortsüchtigere couch potatoes wiedergeboren zu werden.

Mainstream kocht alle ein. Von ein paar Hunderttausend Idioten – wie dem Handwerker Joe und dem Maler Bob Nash, einst Freund und noch immer Nachbar von Millers ehemaligem Zuhause – einmal abgesehen.

Vor langer Zeit schon hatten die Vorfahren Millers – wie Emerson, wie Thoreau – es drucken lassen: Die überwältigende Mehrheit der Amerikaner ist harmlos. Schon in frühen Jahren hingestreckt vom Sirenengeheul des Dollar, vom Big Easy, tief beruhigt von der Aussicht, dass überall riesige Bauwerke voll Nahrungsmittel und King size-Betten herumstehen, dass wohl nie ein Tag droht, an dem einer fasten müsse und nicht fernsehschauen dürfe, sich somit für immer erledigen lässt von der Sehnsucht nach einem billigen Leben.

„Weisst du“, notierte Miller in einem Brief an einen Freud, „wofür die Arbeiter in den Fabriken bezahlt werden? Für ihre Arbeit, wirst du antworten. Aber nein, für ihr Schweigen.“

Nie verstand ich seine Bücher anders als einen Aufschrei gegen das so mühelose Verraten unserer Träume. Fühlte sie als Herzmassage, als Gegengift gegen die Verdummungsseuchen der geschmeidigen Einluller, als Einstiegsdroge in andere Gedankenwelten, als Schutzimpfung gegen die lauwarme Pisse der Lebensmüden. „Stay hungry“, das war eines der zehn Miller’schen Gebote. Und ihn hungerte. Nach allem, was zwischen Gott und dem Vögeln Platz hatte. Seine ozeanische Wissensgier verlangte nach keiner Pause. Seine Anziehungskraft wuchs, je borstiger und frecher er sich losschrieb von den Entwürfen eines dösigen Daseins.

Herzlicher Abschied von Joe. Ich finde einen Platz, wo ich beide im Auge habe, Millers schweigsames Haus und den unbeweglich hingestreckten Pazifik. Es musste so kommen, immerhin das darf ich mit dem Meister teilen: das Talent zum „pleurnicheur“, zum Flenner. Dabei habe ich den Eindruck, ein harmloser Verehrer zu sein. Einmal erwähnte Miller einen Briefschreiber, der ihn bat, ihm testamentarisch seinen Zebedäus zu überlassen. Zum Anschauen und Anbeten. So fordernd, so verzweifelt war ich nie. Aber bei dieser Aussentemperatur, bei diesem Licht, bei soviel Nähe zu einem Aufsässigen und den Wundern der Welt wären ganz andere eingeknickt. Wie kein zweiter Schriftsteller verbreitete der Amerikaner bei seinen skrupellosesten Lesern das verheerend schöne Gefühl, am Leben zu sein. Seine Bücher funktionierten als Aphrodisiakum:zum Anheben der Freude, zur zeitweiligen Entschärfung der Erdanziehung, zum Gehen über Wasser. Und als Lügendetektor: beim Auffinden der Schleichwege, auf denen wir uns von unseren Kinderträumen verabschiedet hatten.

Sein schmalstes Buch habe ich hierher, zweihundert Meter über den Meeresspiegel, mitgenommen: „Das Lächeln am Fusse der Leiter“. Ich kenne es seit vierundzwanzig Jahren und habe es noch immer nicht verstanden. Eine Passage in der Mitte der kaum siebzig Seiten scheint mir am herausfordernsten. Längst weiss ich sie auswendig. „…Du selbst zu sein, nur du selbst, ist eine grosse Sache. Aber wie macht man das, wie bringt man das fertig? Das ist der schwerste Trick von allen. Das schwerste, weil es keinerlei Anstrengung von dir verlangt. Du versuchst weder dies zu sein noch das, weder gross noch klein, nicht tüchtig und nicht ungeschickt. Kannst du mir folgen? Du tust, was dir gerade einfällt. Aber mit Anstand, bien entendu! Denn nichts ist unwichtig. Nichts!“


Erstveröffentlichung 1999

Im Land der Freien – Mit dem Greyhound durch Amerika

Rowohlt-Verlag

Neuauflage Februar 2007
Kurzbeschreibung

Andreas Altmann, Kisch-Preisträger und einer der bekanntesten Reisereporter, fährt mit dem Greyhound-Bus von New York bis San Francisco – eine Reise voller Abenteuer und Geschichten. Er erzählt von den Wundern und Schrecken eines Landes, das wir alle zu kennen glauben und doch nicht kennen, von einem Land, das viel auf seine Freiheit hält und doch in vielem so unfrei ist. Er zeigt uns ein Amerika, das kein Reiseführer zu zeigen vermag.

> Buch bestellen