Leseprobe

Wie versprochen, hier nun ein Motto aus dem Buch, eine Widmung und einen Auszug (das Vorwort), herzlich, Andreas.

Ein Motto

Simone de Beauvoir

Ich liebe das Leben so sehr und verabscheue den Gedanken, eines Tages sterben zu müssen. Und außerdem bin ich schrecklich gierig; ich möchte vom Leben alles, ich möchte eine Frau, aber auch ein Mann sein, viele Freunde haben und allein sein, viel arbeiten und gute Bücher schreiben, aber auch reisen und mich vergnügen, egoistisch und nicht egoistisch sein. 

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Eine Widmung 

Das Buch ist einer Frau gewidmet, die ich nicht kenne. Ich habe sie nur eine halbe Stunde lang gesehen. Von fern, vielleicht aus fünf Meter Entfernung. Ich bin sicher, dass sie mein Anstarren nicht bemerkt hat.

Sie saß und las. Auf einer Bank, mit dem Rücken zur Wand eines Cafés. Sie las wie jemand, der zu einer Spezies gehört, die man für ausgestorben hielt: ganz da, ganz dabei, ganz eins mit dem Buch. Nicht einmal ließ sie die Seiten los, kein Suchen nach dem Handy in der Handtasche, kein Reagieren auf die Geräusche und Stimmen im Raum. Nichts. Das einzige Lebenszeichen kam, als sie umblätterte. Dann wieder totenstilles Versinken. 

 Bis sie, die halbe Stunde war vorbei, den Kopf hob und die Augen schloss. Es war der Augenblick, in dem mir Rilkes Gedicht »Der Leser« einfiel, er schreibt da: »…bis er mühsam aufsah alles auf sich hebend, / was unten in dem Buche sich verhielt.« Dieser Leser war sie, die Fremde. Sie war ein Wunder, sie kam von einem fernen Stern. Sie ist der Traum jeden Autors.

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 Vorwort aus „Bloßes Leben – Reportagen“

Es war mitten in Afrika. Ich musste über den Kongo, um ins Nachbarland zu gelangen. Die Strömung war heftig, und nur eine müde Piroge stand zur Verfügung. Doch Fährmann Nio lächelte nonchalant und meinte: »Pas de problème.« Wir legten ab.

         Es schaukelte gemein, und eine schwungvolle Welle mehr hätte gereicht, um uns zwei ins Wasser zu kippen. Samt Rucksack. Mit je einer Hand hielt ich mich links und rechts am Bootsrand fest. Wie jemand, der sich an die Armstützen seines Sitzes klammert, wenn das Flugzeug in Turbulenzen gerät. Wie kindlich.

      Ich wurde nicht gelassener, als mir ein Spruch aus dem fernen Indien einfiel. Wie wahr er klang und wie wenig nervenschonend: »Du bist das, was von dir bleibt, wenn du bei einem Schiffbruch alles verlierst – und du nackt den Strand erreichst.«

       Dennoch, der Satz gefiel mir. Er war eindeutig und unvorstellbar. Wie das Foto, das ich als Junge in einem Buch mit dem Titel »Katastrophen von heute« entdeckt hatte: Man sah einen Mann aus einem brennenden Haus fliehen. Darunter stand, dass Herrn Hans W. nichts geblieben war. Nur das bloße Leben. Und die drei angesengten Kleidungsstücke am Leib. Hans im Unglück.

      Ich habe zwei Zimmerbrände hinter mir, kein Vergleich zum Verderben eines Flammenmeers. Sachen gingen verloren, und der tiefe Schreck ließ irgendwann nach. Die lebenslange Furcht vor Feuer, die blieb.

        Die kleineren Malheurs mag ich. Ich bin clever genug, um aus ihnen zu lernen. Aus den großen Debakeln wohl nicht, bin unsicher, ob ich es mit Desastern aufnehmen könnte oder nicht doch zerbrechen würde.

       Alles weg, das ist eine ungeheuerliche Aussicht. Alles, auch die Freunde, die den Untergang oder die Feuersbrunst nicht überlebten. Auch die Freundin, alles, was nah war, unersetzlich nah.

       Nios Lächeln sollte recht behalten. Nur leicht durchnässt erreichten wir das Ufer. Dort warteten bereits die Grenzer auf mich, den weißen Mann. Ihre Haltung war unmissverständlich. Ich legte ein paar schmutzige Scheine in den Pass und konnte passieren.

      »Bloßes Leben« hat verschiedene Bedeutungen. Die oben erwähnte – nichts bleibt dem Menschen – ist wohl die brutalste. Eine andere Form – ich will über sie berichten, obgleich sie kaum zum Ruhm des Autors beiträgt – erzählt von einem Umstand, in dem kein Teil des materiellen Besitzes abhandenkam, auch niemandem Leid geschah. Nein, alles durfte ich behalten, und doch war ich bloß und hilflos. »Bloß«, da aller Fähigkeiten beraubt. Eine peinsame Erfahrung, aber gewiss lehrreich.

       So war es: Eine Frau hatte mich eingeladen, und ich folgte ihrer freundlichen Bitte. Ich fuhr zu ihr, obwohl mein physischer Zustand nach einem schweren Unfall desolat war. Doch die Aussicht auf Nähe und Eros verhinderte den Blick auf die Wirklichkeit. Ich stieg in den Zug.

       Luisa war vorgewarnt und reichte mir gleich auf der Fahrt vom Bahnhof zu ihrer Wohnung starke Schmerzmittel. Die, wie das halbe Dutzend zuvor, keinen einzigen Schmerz linderten.

      Bisweilen tut man Dinge, die man schon bereut, während man sie tut. Ich fühlte mich wie ein Betrüger, der längst ahnt, dass er für etwas anreist, zu dem er nicht imstande sein wird.

      Luisa war selbstbewusst – nicht ohne Grund. Sie sah gut aus, verdiente erfolgreich ihr eigenes Geld, war von niemandem abhängig. Drei so begehrenswerte Eigenschaften. Ach ja, zudem redete sie freundlich und vergnügt.

      Ihr Zuhause hatte alles, was es für ein Liebeswochenende brauchte. Das einzige Accessoire, das fehl am Platz war, war ich.

     Nur mit Mühe schaffte ich die vier Stockwerke hinauf in ihr Penthouse. Seit dem Zusammenstoß zwischen mir, dem Radfahrer, und dem Täter, dem Autofahrer, war mein Skelett aus den Fugen geraten. Wann immer ich es bewegte, fuhr ein Blitz in mich.

      Wir plauderten, es gab Kaffee, und die mitgebrachten Blumen standen neben der Schale mit Keksen. Da wir wussten, worauf wir uns einließen, kam es bald zum ersten Kuss. Er gelang mir noch, denn Luisa, die Biegsame, beugte sich vor zu meinem Mund. Warmer Kuss, der alles versprach.

      Alles umsonst.

      Irgendwann verschwand Luisa, und als sie in die Küche zurückkam, war sie nackt, lächelte und begann zu tanzen. Was für ein Geschenk für einen Mann, dachte ich, und wie vollkommen stimmig die Situation war. Luisa wollte vögeln, und wundersam unbekümmert zeigte sie ihre Trümpfe.

       Wieder umsonst.

       Mein Gerippe war inzwischen versteinert. So zumindest fühlte es sich an. Nur die Hand auszustrecken, ja die kleinste Absicht, den Torso zu bewegen, jagte einen feurigen Stich durch mein Nervensystem. Die vom Schock der Kollision miteinander verklebten Faszien wimmerten beim winzigsten Ruck. Undenkbar, hier als Liebhaber aufzutreten. Ich war impotent, von Kopf bis Fuß. Nichts blieb mir an diesem Tag (und in der folgenden Nacht) als das Leben. Ich lebte, nein, ich war am Leben, aber mehr nicht. Nicht der begehrlichste Reiz auf Erden konnte es mit meinem verwundeten Leib aufnehmen.

       So weit die zweite Bedeutung von »bloß« und »Leben«.

       Nun kommt die dritte, die wichtigste, die, von der im Buch die Rede sein wird. »Bloßes Leben« als Ausdruck von äußerster Innigkeit. In den 31 Geschichten passieren immer wieder Momente, die deshalb so intensiv sind, weil sie nichts anderes benötigen als die Bereitschaft, diese Augenblicke zu leben. So ein ultimatives Jetzt, das absolute Wissen, dass der Zauber, der kleine oder größere Rausch, nur Wert hat, wenn man von Anfang bis Ende dabei ist. Dass kein Zaudern sein darf, da sonst das Geschenk – und dauerte es nur Minuten – entschwindet. Jede Faser soll zucken, soll versichern, dass einen gerade das verheerend grandiose Gefühl durchflutet, unverbrüchlich anwesend zu sein: herzflimmernd und mittendrin.

        Solche Euphorien scheinen nötiger denn je, da wir uns auf eine Gesellschaft hinentwickeln, die jede sinnliche Anstrengung – sinnlich im Sinne von: physisch erfahrbar – auf Biegen und Brechen abschaffen will. In zukünftigen »Smart Houses« ist selbst das eigenhändige Hochheben des Klodeckels verboten. Lieber aufs Smartphone tupfen, als Muskeln zu spüren. Lieber nichts spüren als spüren. Der Körper ist verdächtig, der kann weg.

        Die hedonistische Tretmühle – was für ein Traum! Was für ein Albtraum!

        Eines Tages wird uns beim Verlassen der Wohnung automatisch eine Windel verpasst, und mit dem Babyfon in der Hand dürfen wir nach draußen. Für den Fall, dass es zu nieseln beginnt und wir unverzüglich um Hilfe betteln müssen: Bitte sofort nach Hause evakuieren! Ins Hyggereich mit Sofa und Kuscheltieren – und garantierter Windstille. Ich warte noch auf die stufenlos einstellbare Heizung für den Fahrradsattel. Den Motor haben wir ja schon. Keiner braucht mehr Angst zu haben, dass sein Body zu irgendetwas nütze ist.

       Studien bestätigen es: Sex steigt ab, immer weniger können sich dazu aufraffen. Wie verständlich, denn viel aufregender, als einen Menschen zu beschmusen, ist es, wie offensichtlich, mit Plastik zu spielen. Das kann man hernehmen, weglegen, es riecht nicht, es widerspricht nicht, es ist berechenbar und landet, wenn unbrauchbar, im Müll. Entschieden anstrengender ist da ein Zweibeiner, der nicht sofort pariert, der eigensinnig ist, der sich nicht so umstandslos entsorgen lässt.

        Ich poche auf mein analoges Leben, das keinen Wert darauf legt, rundum »connected« zu sein. Ich will auf die Welt glotzen und nicht auf ein handtellergroßes Display, ich will nicht zermalmt werden von Geschwätz, das durch den Cyberspace wabert. Gleichzeitig, wie menschenfreundlich, verschone ich die Umwelt mit den Pipinachrichten aus meinem Alltag.

         Als ich zum ersten Mal von Jugendlichen hörte, die sich ritzen, um sich via Schmerzen irgendwie wahrzunehmen, irgendwie den Moder der braven, schauerlich voraussehbaren Jahre auszuhalten, habe ich sie sofort verstanden. Ich ritze mich nicht, doch ich haue ab. Irgendwohin, fast egal, wohin. Nur schimmeln darf es dort nicht. Seltsam, aber oft werde ich belohnt für die Beschwernisse. Ich treffe Frauen, ich treffe Männer, und Geschichten passieren, die fremd und wunderlich klingen. Jedenfalls weit weg vom Mief des ewig Gleichen.

      »Am Grabe der meisten Menschen trauert, tief verschleiert, ihr ungelebtes Leben«, keine Ahnung, wo ich den Satz las. Er ist gemein und leider nicht von mir.

       Ich wünschte, jedes meiner Bücher taugte so nebenbei als Aphrodisiakum. Man liest es, man schluckt es, und nach spätestens einer halben Stunde regt sich die Lust. Aufs Leben.

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