PARIS

Abschied von Celia. Im Flugzeug fällt mir ein, dass ich kein tröstendes Wort für sie hatte. Dass ich ohne nachzudenken der Versuchung widerstand, sie mit ein paar platten Phrasen heimzuschicken. Im Gegenteil, ich habe an ihre Wut appelliert. Sie solle abhauen und woanders anfangen, weit weg. Mit ihren schwarzen Gedanken im Kopf hätte Mexiko keine Chance mehr. Dieses Kapitel Leben sei vorbei.

Schon vor der Reise hatte ich beschlossen, mich den Spielregeln des Buddhismus zu unterwerfen: Kein schäbiges Mitleid, kein Betroffenheitsgestammel, keine flüchtigen Parolen. Dafür unduldsame Aufrufe zum Handeln, zum Widerstand, zur Veränderung. “Get your lazy ass up!“, der Imperativ stammt nicht vom Erleuchteten, sondern von dem amerikanischen Dichter Charles Bukowski. Der saß nie im Lotussitz, dennoch ist das ein lupenrein buddhistischer Merkspruch.

Nehru, Atheist und erster indischer Ministerpräsident, meinte einmal provozierend: “Alle intelligenten Menschen sind Buddhisten“. Weil keine Heiligen und keine heiligen Jungfrauen, auch keine Stellvertreter Gottes sich anmaßen, die Wahrheit zu besitzen. Buddhisten müssen suchen, müssen nichts glauben, müssen nur dem vertrauen, was sie selbst gefunden haben. Schön wärs. Die Wirklichkeit ist komplizierter.

THAILAND

Ich lerne Phra Hans kennen, Schweizer, Mönch, knapp 60, wunderbar hilfsbereit und vom dem leidenschaftlichen Willen besessen, die Suche nach Erlösung und Erleuchtung voranzutreiben. “Noch hänge ich am Kreuz“, sagt er, und da müsse er herunter. Denn noch fühle er sich von der Schwere des Lebens gekreuzigt. Die er loswerden will, endlich. Dann, so phantasiert er, begänne die Leichtigkeit.

Hans — eher verwunderlich für einen Schweizer Staatsbürger — hat eine radikale Existenz hinter sich, ein Sucherleben. Er unterzieht sich mehreren Therapien, Einzeltherapien, Gruppentherapien, Männertherapien, heiratet eine Voodoo-Frau in Haiti, zeugt ein Kind mit ihr, quittiert mit 50 seinen Lehrerjob, lebt zwei Jahre in New Mexico, geht ans berühmte Esalen Institut in Kalifornien, reist in den Brasilianischen Dschungel, verirrt sich in eine Mystery School und macht Bekanntschaft mit dem Halluzinogen Daime. Heute weiß er, dass er lieber verzichten hätte sollen. Vielleicht war die Dosis zu hoch. Jedenfalls fluteten Bilder durch seinen Kopf, die er nicht verkraftete. Verwüstet kehrt er aus dieser Erfahrung zurück. Auf der Suche nach einem Gegengift, das der gequälten Seele Frieden bringen soll, kommt er zum 41. (sic!) Mal nach Thailand. Er will für einen Tag das Kloster Thamkrabok besuchen. Und bleibt, nachdem er den Abt getroffen hat. Bei ihm fühlt er sich behütet. Seit fünf Jahren.

Warum er so oft dieses Land besuchte? Weil die Thais, sagt er, nicht hadern. Sie nähren das Helle. Er will auch hell sein, aber er kann nicht. Er muss grübeln. Hans gilt als der Intellektuelle, er spricht mehrere Sprachen, hat gerade eine komplette Neuübersetzung der Schriften Nostradamus’ abgeschlossen, kümmert sich um die (E-Mail)-Korrespondenz und die Website von Thamkrabok. Das sind die Momente, in denen er am innigsten nach Buddha ruft. Weil die Leitungen verstopft sind und er nicht in Lichtgeschwindigkeit mit der Welt kommunizieren kann. Ansonsten kämpft er mit anderen Gegnern, er nennt sie die “nahen Feinde“. Hans ist reich und kompliziert im Kopf. Der nahe Feind der Liebe heißt Abhängigkeit, beim Mitgefühl ist es das Mitleid und beim Gleichmut die Gleichgültigkeit. Allen dreien müsse man wach aus dem Weg gehen. Sonst wären die Liebe und das Mitgefühl und der Gleichmut nichts wert.

Hans spricht über seine Erfahrungen mit Süchtigen. Wer hier anklopft, klopfe als Kühlschrank an: alle Sinne gefroren, somit auf befremdliche Weise beschützt vor einer als grausam empfundenen Wirklichkeit. Hier tauen einige wieder auf, spüren wieder die Wärme, die ihre Körper so hartnäckig und erfolgreich verdrängt haben. Fälle von Frauen sind bekannt, deren wieder erwachte Sinnlichkeit vor Mönchen nicht Halt machte. Hans grinst, solche Reaktionen seien ein gutes Zeichen: ein Mensch traue sich wieder zurück zu den anderen.

Bedingung für eine – eventuelle – Heilung: Nur wer die Mühsal auf sich nimmt, sich für sein Leben zuständig zu fühlen, verfügt über die Kräfte, um heil wieder abzureisen. Er, der Junkie, muss spüren, wie ruinös er mit sich umgeht. Nie dürfe man jemanden zu einer Behandlung “überreden“. Hans nennt als Beispiel den Big-Brother-Glotzer, der nie das Glotzen sein lassen wird, solange er nicht begreift, was er mit seiner Lebenszeit anstellt.

Immer wieder, so der Mönch, erreichen uns, uns alle, Briefe in Form von Krankheit, Drogen, Alkohol, Gier, Apathie, etc., Mahnschreiben aus der Seele, die uns eine Botschaft übermitteln wollen. Meist steht nichts anderes drin, als dass das Leben ein Geschenk ist und dass es eine andere Behandlung verdient, als jene, mit der wir es augenblicklich in den Dreck ziehen. Aber wir lesen die Briefe nicht. Aus Trägheit, aus Mutlosigkeit, aus Mangel an Stärke. Hans spricht davon, dass er im Lauf der Jahre eine Entwicklung registriert hätte: Immer mehr Menschen versuchen, einen anderen Weg zu gehen, als den des willfährigen Konsumenten. Sie wollen ausscheren, wollen die Oberfläche verlassen, etwas finden, das tiefer liegt und tiefer befriedigt. Auf der anderen Seite würde der Haufen jener immer gewaltiger, die sich am Nasenring in Richtung großer Verblödung ziehen lassen. Sie — und daran bestehe kein Zweifel — bildeten die überwältigende Mehrheit.

KAMBODSCHA

Emsige Stadt, vielleicht eine Million Einwohner. Rasante Zuwachsraten, da die Landflucht jeden Tag Hunderte in die Stadt treibt. Kommt die Zeit der Reisernte, wird die Stadt wieder kleiner, denn viele Tagelöhner gehen zurück in ihre Dörfer und ernten. Vor 25 Jahren liefen durch die Straßen mehr Kühe als motorisierte Vehikel. Pol Pot ließ die Bevölkerung verjagen, er hasste Städte, sein Neuer Mensch sollte Bauer sein und Landluft riechen. Inzwischen sind die modernen Todsünden auch hier eingefallen, Lärm, Raumnot, Smog, der typische Gestank des 21. Jahrhunderts.

Die Stadt hat was, on the move, sie tänzelt, will nachholen, was ihr so lange verwehrt wurde. Manche Kambodschaner haben es eiliger als andere, sie vermeiden den Umweg über regelmäßige Arbeit, sie werden kriminell. Ein SOS-Kinderdorf ist Phnom Penh nicht, eine gewisse Achtsamkeit wäre hilfreich. In den Schaukästen entlang den Mauern einer Polizeistation entdecke ich eines Nachts die Fotos der aktuellsten Übeltäter. Mit dem Beutegut und den Werkzeugen, um an die Beute heranzukommen: Pistolen, Haifisch-Messer, Hackebeile, Handgranaten, Hämmer, Baseballschläger.

Sinnigerweise befindet sich in der selben Straße, schräg gegenüber den schweren Jungs, ein Dutzend Wettbüros. Die einzigen Geschäfte, die um 23 Uhr noch offen haben. Die Sehnsucht nach Reichsein will nicht schlafen. Ach, kleine Welt, sogar auf die Ergebnisse der Second German Bundesliga kann man wetten. Ich sehe erwachsene Kambodschaner darüber nachdenken, ob Burghausen oder Karlsruhe und Erzgebirge Aue oder RW Essen siegen wird. Ich ziehe meine kleine Weltkarte hervor und halte sie in die Höhe: “Weiß einer hier, wo Burghausen liegt?“ Einfach nur auf das Land deuten, Europa würde schon reichen. Aber sie lachen schallend, lachen mich aus, als wollten sie sagen: Was zum Teufel soll die Frage? Burghausen soll Zaster abwerfen, nichts anderes, völlig egal, wo das Kaff liegt.

Auf dem Weg zurück ins Hotel überholt mich ein Moped, hinten drauf sitzen zwei Mädchen. Sie springen ab, nehmen meine beiden Hände und führen sie an ihren Körper entlang. “Hold my ass, hold my tits!“ Ich soll zupacken und ja sagen. Ich blicke in ihre Gesichter, blutjunge, uralte Großstadt-Nutten. Leibhaftiger, welcher Mann will hier dabei sein. Ohne kurzen Ringkampf darf ich nicht weiter, die beiden scheinen knapp bei Kasse. Ich renne davon und das Duo gellt hinter mir her. Auf Khmer, sicher keine Kosenamen.
Die Nacht endet mit einem Kichern. Weil ich noch an einem (bereits geschlossenen) Parlour vorbeikomme. Family oriented, so ist zu lesen. Was nichts anderes sagen will, als dass es hier keinen Sex gibt. Was nicht ausdrücklich erwähnt werden müßte, denn wer käme schon auf die Idee, dass in einer familienorientieren Umgebung viel Eros ausbricht. Vor Tagen las ich in der Zeitung, dass japanische Ehepaare einmal pro Monat ihre Ehepflichten hinter sich bringen. Das halte ich für übertrieben.

VIETNAM:

Späte Stunde, um Abschied zu nehmen. Ich bin noch immer im Zweifel, ob Duc ein abgefeimter Blender oder ein feiner Kerl ist. Wohl beides. Aus Sicherheitsgründen – er fragt noch, wann genau ich am nächsten Tag zum Geldabholen käme – lasse ich mich vor einem anderen Hotel absetzen. Sonst habe ich ihn um sechs Uhr früh als Mahnwache vor der Zimmertür. Auch verschweige ich meine Abfahrt. Für meine persönliche Freiheit schwindle ich hemmungslos. Sie ist ein Gut, das jede Notlüge rechtfertigt.

Ich warte, bis mein Leibwächter verschwunden ist, dann suche ich das Café auf, in dem ich schon gestern war. Will lesen, nachdenken, vordenken, schreiben, rauchen. Als ich um 23 Uhr aufbreche, ist die Stadt leer. Nur Nacht und drei Nebenstraßen weiter eine blaue Leuchtzeile, The white rose. Und ich gehe in einen Raum, wo nichts anderes steht als ein Sofa. Und eine Stimme fragt, so sacht wie die Beleuchtung: „You want massage?“ Es ist das erste Mal, das ich das Wort keusch ausgesprochen höre. Ich schließe für einen Augenblick die Augen, spiele die Stimme nochmals ab in meinem Kopf und sage: „Yes, please, why not.“
Ein zweites Mädchen kommt, sie führt mich zu einer Treppe. Auf der ersten Stufe steht: Step softly. Ich will unhörbar losgehen, offensichtlich liegen oben die Matratzen. Aber Phong weist auf einen Stuhl. Ich setze mich und sie bringt eine Schüssel mit wamen Wasser. Ein Ritual. Bevor man sanft auftreten darf, gibt es eine Fußwaschung. Viele Arten existieren, die Füße eines Mannes zwischen zwei Hände zu nehmen. Das hier ist Phongs Art. Wohl tausend Zehen Erfahrung liegen in der Bewegung, mit der sie nach ihnen fasst, sie einseift, sie abtrocknet.

Dann hinauf in den ersten Stock, Phong reicht mir die übliche weite Hose und das Überhemd, verlässt den Raum, kommt nach fünf Minuten wieder. Ich liebe Diskretion, das Gefühl, in bestimmten Momenten allein sein zu dürfen. Ich weiß jetzt, das wird eine berauschende Mitternacht. Als ich mich auf eine der fünf blitzsauber bezogenen Matratzen lege und Phong zurückkommt, höre ich drei schöne Geräusche. Den leise ächzenden Ventilator, den leichten Regen auf dem Dach, die einschläfernde Monotonie einer Standuhr. Bisweilen zieht ein warmer Wind durch die Fenster und die hauchdünnen Vorhänge wehen lautlos über das Parkett.

Und Phong sagt kein Wort, unterlässt jede Anzüglichkeit, macht nicht mit ihren Händen nicht eine einzige „falsche“ Bewegung, nicht eine Berührung zu nah, um herauszufinden, ob ein special service gewünscht wird. Die weiße Rose bleibt unbescholten, Phong ist vollkommen anwesend. Als Mensch, der jemandem seine Kunst zur Verfügung stellt. Das scheint mir im Augenblick exklusiver als intime Nähe mit einer gleichgültig vorhandenen Frau.

Würde man die Szene fotografieren, man sähe hinterher nur Bilder aus dem 19. Jahrhundert, den Lampion, die Kerzen, die Farben, nicht ein Teil von heute. Und man sähe die Stille, sicher. Nach den vier Worten unten („please, take off shoes“), begann Phong ihr behutsames Schweigen, eine wahre ganze Stunde lang. Als sie vorüber ist, verlässt das Mädchen wieder den Raum, mein versunkener Leib darf noch bleiben, darf noch Zeit haben, wieder aufzutauchen. Als ich bezahle, verneigt sich Phong mit gefaltenen Händen vor dem Gesicht und schließt hinter mir das Gitter.

Jetzt wirkt Hué noch verlassener. Ich gehe runter zum Rivière des Parfums, dem Parfumfluss. Setze mich, schaue. Fießendes Wasser taugt jetzt am besten, um das Glück auszuhalten. This was a finest hour. Und Phong, dieses fremde Mädchen, von dem ich nichts weiß, und das ich nie wieder sehen werde, hat sie mir gegeben. Ich kann nicht sagen, an was ich mich unbekümmerter erinnern werde. An die leibliche Wohltat oder das Ambiente, wo alles, alles stimmte? Die Temperatur der Welt, der Mensch in unmittelbarer Nähe, der Duft, die Brise, der Einklang mit dem Körper. Ich wanke nach Hause.

Mein Hotel liegt direkt neben dem Bahnhof. Ich habe den Schlaf eines Geigerzählers, ich höre sogar Gedanken. Aber das Pfeifen von Zügen in der Nacht, das klingt wie ein Wiegenlied, es löst nichts als Frieden und Frieden stiftende Erinnerungen aus. Es wiegt in Träume. Heute mehr denn je.


Erstveröffentlichung 2006

Der Preis der Leichtigkeit – Eine Reise durch Thailand, Kambodscha und Vietnam

Verlag Frederking & Thaler

Hardcoverausgabe & Taschenbuchausgabe

2006 auf der Spiegel-Bestsellerliste
Kurzbeschreibung

Seit vielen Jahren ist das Reisen, das Unterwegssein mit leichtem Gepäck, für Andreas Altmann eine existentielle Daseinsform. Unstillbarer Erfahrungshunger, seine Lust auf Abenteuer, treiben ihn zu immer neuen Erfahrungen an. Sein Ziel ist dieses Mal Südostasien: Thailand (mit einem Abstecher nach Myanmar), Kambodscha, Vietnam. Er reist ohne festen Plan, immer seiner Intuition folgend. Dabei meidet er die Touristenströme, interessiert sich für die kleinen Dinge, für die Ränder der Zivilisation, für die Menschen und ihre Geschichten. Altmann ist ein scharfer Beobachter und ein begnadeter Zuhörer. Er begegnet Bettelmönchen und Schuhputzern, ehemaligen Kriegsfotografen und Barbesitzern, Überlebenden der Kriege und Folterknechten verflossener Regimes, Zivilisationsmüden und Gestrandeten, Schnapsbrennern und Huren, einem alten Schriftsteller und einer exzentrischen Architektin – und (fast) alle bringt er zum Reden und ihre Geschichten zu Papier. Mit wachem Blick registriert er die Schönheiten, aber auch die Schattenseiten dieser Länder, lässt sich faszinieren von der Vielfalt ihrer buddhistischen Strömungen und nimmt Anteil an ihrer leidvollen Geschichte. Er sucht nach einem verschollenen Freund auf der vom Tsunami verwüsteten Insel Phuktet, arbeitet als freiwilliger Helfer in einem Aids-Kloster, besucht Heiligtümer und Bibliotheken, bewegt sich in legendären Hotels auf den Spuren von Graham Greene, Somerset Maugham und John Le Carré. Zwischen Bangkok und Hanoi, Phnom Pen und Hué, unterwegs in maroden Eisenbahnzügen, in Pickup-Taxis, auf Fahrradrikschas und auf den Rücksitzen von Mopeds erkundet er die von Leben pulsierenden Städte und einsame Landstriche, in denen die Zeit stehen geblieben scheint. Und manchmal findet er auch einen Platz, um zu schreiben – ein abgeschiedenes Café, eine stille Hinterhofpension. Altmanns Tagebuch ist voll von Momenten praller Sinnlichkeit, ein wildes road movie und zugleich eine Reflexion über das Exotische und das Vertraute, über das Fremde und das eigene Selbst.

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