Leseprobe, eins:

Kairo. Eines Nachts schlendere ich durch die leeren Strassen von Old Cairo und sehe unter dem fahlen Schein einer Laterne jemanden stehen, der mich herüberwinkt. Seine Handbewegung hat etwas seltsam Suggestives. Ohne zu zögern gehe ich auf ihn zu. Als ich vor ihm stehe, umarmt er mich und fährt behutsam mit seinen Fingern über mein Gesicht.

Er zieht mich zu sich heran und ich erkenne seine toten Augen. Er küsst meine Stirn. Einmal, sacht, ohne freche Intimität. Der Alte sagt nichts, und ich habe den Kuss wohl verstanden. Er ist blind und er ist allein. Wer immer hier durch diese verlassene Gasse kommt, wird geküsst. Als Heilmittel gegen die Einsamkeit. Seine. Und die des Fremden.

Im Westen beginnen Märchen mit „Es war einmal.“ Hier heisst es „kan ya makan“, was wohl soviel bedeuted wie „es gab einmal, es gab einmal nicht“. Vielleicht passierte es, vielleicht passierte es nicht. Die arabische Sprache ist zuallererst Zauberer. Um eine Wirklichkeit herzustellen, die in der Realität nicht stattfindet. „Ein Morgen voller Segen, ein Morgen voller Licht“, so begrüssen sie sich hier. Auch wenn der Tag trüb ist und düster, auch wenn sie im nächsten Augenblick zurückkehren zum Unrat und den Pariahunden ihrer Strassen. Ihr Leben ist schwer und ihre Worte sind leicht. Die träumen.

Leseprobe, zwei:

Helwan. Magdi rekonstruiert die Hochzeitsnacht seiner Schwester. Und die war so: Ehemann und Ehefrau halten sich im Schlafzimmer auf, unzweifelhaft damit beschäftigt, was von den Teilnehmern bei einer solchen Gelegenheit erwartet wird. Vor der Tür harrt die Familie der Braut, auch Magdi. Harrt auf das „Ergebnis“, den eindeutig blutigen Nachweis, dass es sich bei der Tochter um ein vollkommen unversehrtes Stück Frau handelt. Als unwiderlegbaren Beweis einer ehrenhaften Familie. Doch irgendwann kommt der Ehemann heraus und murmelt etwas von wegen Müdigkeit und bittet um Geduld. Warum nicht, also morgen ein nächster Versuch: „Same time, same station“, kichert Magdi.

Am nächsten Tag bezieht wieder jeder die ihm zukommende Stellung. Drinnen die nervösen Eheleute, draussen die lauernde Familie. Und wieder tritt der Gatte mit (blut)leeren Händen vor die Verwandtschaft, sorry, aber die Aufregung, der Druck, ganz sicher klappe es beim dritten Mal. Man schluckt es, wobei Magdi seinen Schwager noch wissen lässt, dass es morgen passieren muss.

Aber es passiert nicht. Ein drittes Mal tritt der frisch Vermählte ohne Beweisstück vor die nun im höchsten Grade gereizten Familienmitglieder. Nun denn, man hatte die beiden gewarnt, jetzt müssen Taten sprechen. Und Magdi, der älteste Bruder, somit agierend in Vertretung des kranken Vaters, stürmt mit gezogenen Messer ans Bett seiner Schwester, hält es millimeternah an ihre Kehle und schreit ihr die einfache Frage ins Gesicht: „Bist du veschlossen, bist du veschlossen?“ Und die Toderschreckte wispert: „Ja, ja, verschlossen“, wohl wissend, dass die Antwort „offen“ die verheerensten Konsequenzen haben würde.

Magdi rennt hinaus und schickt die Schwester des Vaters ins Schlafzimmer. Und die Dreiundsechzigjährige weiss, was sie zu tun hat, spreizt – Magdi mit Messer und Familie wartet wieder vor der Tür – die Beine der schwer verdächtigten Nichte und fordert den mitgebrachten Ehemann auf, seinen mit zwei weissen Tüchern umwickelten Mittelfinger in die Vagina seiner Frau einzuführen. Um das verdammte Blut ausfindig zu machen. Und er führt ein. Doch, unfassbar, auch jetzt will nichts fliessen. Dafür fliessen die ersten Tränen der Ehefrau, gellen die ersten Schreie, Schmerzensschreie. „Tiefer“, befiehlt die Tante und der Neffe bohrt tiefer. Und die Schreie werden tiefer. Bis die Metzgerei irgendwann ein Ende hat, das Blut sprudelt und – so will es der religiöse Irrsinn – Leben und Ehre gerettet sind. Ein blutverflecktes Tuch geht an die Mutter, es bezeugt unmissverständlich, dass sie eine „anständige“, christliche Tochter grossgezogen hat. Das andere Tuch erhält der Ehemann, als Trophäe, als lebenslängliches Zeugnis, dass sich keiner vor ihm an seiner Frau zu schaffen machte.

Magdi klärt mich auf. Wäre bis zuletzt kein Blut zum Vorschein gekommen, es hätte drei Möglichkeiten gegeben. Erste: Der Ehemann schneidet seiner Frau den Kragen durch, tränkt die weissen Tücher im Blut der Toten, gibt ein Tuch dem Vater. Zweite: Schafft der Gatte den Mord nicht, übernimmt der Schwiegervater die Aufgabe. Letzte Möglichkeit: Hat sich die Familie bereits zu einer höheren Zivilisationsstufe durchgerungen, zieht sie weg. Kein Mensch, kein Nachbar würde sie mehr achten. Nur der Tod der „Hure“ rettet die Ehre des Vaters. Ein Wegzug rettet sie nicht, aber die Schande ist zumindest am neuen Ort nicht bekannt. Magdi, so sagt er, wäre auf und davon.

Leseprobe, drei:

Kitwe, Sambia. Eine halbe Stunde später sitze ich im Restaurant. Ich bin rasiert, gewaschen, dünner als je und gerade dabei, seit längerer Zeit wieder satt zu werden. Der Ober bringt immer, um was ich ihn bitte: Eine Tomatensuppe mit Brot, ein Huhn mit Reis, Zwiebeln und Erbsen. Als er Kaffee und Kuchen serviert, kommt ein Mann zur Tür herein, der alles entscheidet. Weil ich im selben Augenblick weiss, dass meine Reise zuende ist. Der Dicke schaut skeptisch und kratzt sich am gelben Frotteehut. über seinen Bauch spannt sich ein T-Shirt mit den feuerroten Worten: „I love New York“, hintendrauf steht grün: „Acapulco, Acapulco“. Der Dicke ist der Hammel, unübersehbar, unüberhörbar schnarrt er Anweisungen Richtung Personal. Wieder geht die Tür auf und dreiundzwanzig Schafe ziehen ein. Alle lieben New York und Acapulco. Nur der Frotteehut ist weiss. Der Gelbe teilt den Weissen die Plätze zu, laut englisch schnatternd nehmen die Schafe Platz, warten auf das bereits in Birmingham bezahlte Menu.

Meine Reise ist zuende. Unwiderruflich. Hier in Sambia, im Nkana-Restaurant, beginnt der Wohlstand. Und mit ihm die läppischte Form allen Reisens, der Tourismus. Bis hinunter nach Kapstadt wird alles seinen reibungslosen Weg gehen. Nie mehr schlafe ich ausserhalb eines Betts. Um nichts muss ich mehr kämpfen. Um kein Stück Papaya, keinen Schlafplatz, kein Ticket, keine Permission. Nie mehr muss ich notlügen und mich davonreden. Keiner bedroht mich, keiner fordert, keiner fordert heraus, nicht einmal werde ich Angst haben. Das schwerwiegende Gefühl, mit allen Sinnen am Leben zu sein, es ist verschwunden.

André Gide notierte einmal, dass „ihm der Zwang natürlicher war als Anderen die Hingabe ans Vergnügen“. Das ist ein wagemutiges Eingeständnis. Und furchterregend wahr. Gides Grausen vor dem Komfort, die nackte Panik, vom Wohlstandsgerümpel um die so bitter notwendige „Émotion forte“, sprich um umwerfende und mitreissende Gefühle betrogen zu werden, all diese Ängste, die immerhin, darf ich mit dem Meister teilen.

An diesen Abend denke ich oft an Hiroshi. Als suchte ich Schutz bei ihm. Weiss ich doch, dass er mir recht gäbe. Den dreiundzwanzigjährigen Japaner traf ich in Wadi Halfa, dem sudanesischen Grenzort zu Ägypten. Schon sechs Tage hatte er in dieser Staublunge ausgehalten. Es gab Laster nach Khartum, aber er wollte nicht zahlen. Nicht aus Sparsamkeit, sondern um zu wissen, ob er die Kraft habe zu warten, bis ihn jemand kostenlos mitnähme. Er hatte später vor, Filme zu drehen. Und Afrika, meinte er, sei der richtige Platz, sich darauf vorzubereiten. Seine Bestimmtheit und Intensität waren ungewöhnlich, und ich fragte ihn provozierend, warum er allein reise. Denn ein einziger Japaner käme eher selten vor. Darauf Hiroshi, verächtlich: „Don’t have fire, don’t have passion.“ Und Daniel, ein junger Sudaner, der an unserem Gespräch teilnahm und dem manchmal ein englisches Wort fehlte, fragte: „What is that, passion?“ Und Hiroshi, stolz und schön: „It’s a fire, it’s a fire in your heart.“


Erstveröffentlichung 2001

Im Herz das Feuer – Unterwegs von Kairo in den Süden Afrikas

Picus-Verlag

Kurzbeschreibung

Von Kairo durch die Sahelzone bis nach Sambia: Sandpisten und Dschungelwege, Hotels mit einem halben Stern, Straßenräuber und das Erlebnis einer ganz besonderen Gastfreundschaft – Andreas Altmanns abenteuerliche Reise quer durch das faszinierende Afrika ist voll von Strapazen, aber auch von komischen, traurigen, immer beeindruckend schönen Momentaufnahmen. In Kairo beginnt Andreas Altmann seine drei Monate lange Reise in den Süden Afrikas. Mit viel Sinn für die absurde Komik des Schrecklichen führt uns der renommierte Reporter durch diesen geheimnisvollen Kontinent; dabei hat Altmann keinerlei Berührungsängste: er geht nah heran, verführt die Menschen zum Reden und Geheimniserzählen. So entsteht ein Kaleidoskop von teils komischen, teils traurigen meist aber beeindruckend schönen Momentaufnahmen: der Besuch beim Friseur, der mit einer Ziege auf dem Schoß in seinem Laden sitzt; die fünfköpfige Familie, die in die Totenstadt im Osten von Kairo gezogen ist, weil unter den Lebenden kein Platz mehr war; die Straßen „Old Cairos“ mit ihrem Unrat und ihren Pariahunden. Auf Sandpisten und Dschungelwegen nähert er sich langsam seinem Ziel: Altmann läßt den Leser teilhaben an einer Sinnlichkeit und auch den Strapazen des Reisens, die ihn an seine körperlichen Grenzen bringen. Er wohnt in Hotels „mit einem halben Stern“, verbringt die nächt liche Überfahrt auf dem Lake Nasser auf einem Küchentisch dösend; auf dem Dach eines Lasters geht es durch die Sahelzone; er hört Geschichten von Goldschmuggler-Karawanen und mutigen Banditen und bewundert das afrikanische Talent zum Teilen.

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