Leseprobe, eins:

Tanger, Marokko. Hier wohnt einer, der macht süchtig. Sein Trotz der Welt gegenüber und seine so nachdrücklich gepflegte Boshaftigkeit im Umgang mit Männern und Frauen, sie verführen. Zeugen sie doch von einer souveränen Giftigkeit und Brillianz. Der Sechzigjährige ist ein Aufsässiger, einer, der sein Leben riskiert, um das seine, so kaputte, so einmalige, nicht zu verraten. Und ein Bereicherer. Jedesmal, wenn wir uns treffen, beute ich ihn aus. So erheitern seine Sprüche und Widerreden.

Auch diesmal. Zwei Stunden, nachdem ich in Tanger landete, klopfe ich an seine Tür. Eine drei Monate lange Reise durch Afrika liegt vor mir, und ich will den Verführer vorher noch sehen. Damit ich die Erinnerung an ihn mitnehmen kann. Als Wegzehrung in weniger heiteren Stunden.

Mohamed Choukri öffnet. Ich habe Glück, und er erinnert sich an mich. In der Zwischenzeit war er mindestens ein halbes Tausend Mal betrunken und die Gefahr, irgendwann aus seinem Hirn zu verschwinden, weggeschwemmt von einem letzten Kognak, diese Gefahr besteht. Täglich, ab 4 Uhr nachmittags.

Er hat noch immer Flecken auf der Hose, und noch immer stehen die zwei Betten in seiner Wohnung. Das breite für den Damenbesuch, das schmale zum Überleben: auf ihm schreibt er. Das beste, das er darauf produziert hat, machte ihn berühmt. „Le pain nu“, das nackte Brot, ein Tatsachenbericht aus der Hölle seiner Jugend. Sein Vater, der Prügler und Mörder. Sein Hunger und die Brotrinden aus den Abfalltonnen. Sein einsames Geschlecht und die tierische Lust auf Schafe und Ziegen. Fünfzig Jahre später sind die Wunden verheilt. Nur die Narben schmerzen. Er heilt sie, jeden Tag von vorn, mit einem dunkelschwarzen, ätzenden Humor.

Unten auf der Strasse, wir biegen gerade rechts ab in die nächste Bar, wird er von mehreren Leuten begrüsst. Einer umarmt ihn. Wie ihn das ärgert. „Je n’aime pas être trop aimé“, flucht er hinterher. Jeder Anflug von Nähe erschreckt ihn. Ich frage nach, und er bestätigt die Jahrzehnte alten Spielregeln. Oberstes Gebot: „Pas trop coller“, nur nicht zu nahe ran. Das gilt besonders für seine Beziehungen zu Frauen. Einen halben Tag will er investieren, um die Augenblickliche Richtung grosses Bett zu manövrieren. Bleibt sie, nach dem Manöver, dort liegen, klebt sie bereits. Das gilt es auf Biegen und Brechen zu vermeiden. Zudem muss er sich ab elf Uhr nachts in der Nähe seines Schreibtischs befinden. Also rüber aufs schmale Bett. Um das zu tun, was seinem Leben „sens et existence“, Sinn und Wirklichkeit, verleiht: schreiben.

Leseprobe, zwei:

Lomè, Togo. Einige Minuten nach 23 Uhr verlasse ich die Mini-Brasserie, eines der wenigen offenen Lokale. Von hier bis zu meinem Hotel sind es knapp fünfhundert Meter. Finster, still, leer. Wie immer schleiche ich in der Mitte der Strasse. Sollte jemand nach mir ausholen wollen, ich hätte noch immer ein paar Schritte Zeit, um zu reagieren. Aber niemand holt aus, ich selbst gehe auf meinen Täter zu.

Kurz vor der Ecke an der rue du commerce ruft mich jemand an. Freundlich, sacht, ja – hinterher weiss ich das richtige Wort – verlockend. Der Mond scheint. Ich erkenne neben der nächsten Hausmauer einen breiten Schatten. Der streckt die Hand aus und sagt den einfältigsten Satz in der modernen Kriminalgeschichte: „Guten Abend. Sag mal, kennen wir uns nicht?“ Und etwas nicht zu Fassendes passiert. Anstatt mit Höchstgeschwindigkeit in Richtung Hotel abzuzischen, gehe ich auf ihn zu.

Einer, der immer glaubte, über alle afrikanischen Drehs und Finten Bescheid zu wissen, bekommt jetzt Nachhilfeunterricht. Schmerzhaften. Wie hypnotisiert – eine andere Rechtfertigung halte ich nicht aus – schalte ich alle Alarmsirenen ab und will wissen, ob wir uns kennen. Der Schatten und ich.

Die ersten dreissig Sekunden gehen noch gut. Der mächtige Kerl nimmt meine angebotene Hand und sagt heiter: „Klar kennen wir uns, ich bin’s, Jean-Michel .“ Ein Ton, der nun völlig entwaffnet. Der Typ kennt sich aus. Mit den bescheidensten Mitteln legt er meinen Verstand lahm. Und dessen Schrei, dessen Warnschrei, dass ich auf diesem Erdteil keinen einzigen Mann mit einem solchen Namen kenne, er kommt zu spät.

Blitzschnell lässt der Mensch meine Hand fallen und stürzt mit zehn rabiaten Fingern auf meinen Hals, schraubt zu, zischelt hungrig: „Rück dein Geld raus!“ Würde ich das tun, müsste ich morgen bei der deutschen Botschaft um ein Rückflugticket betteln. Ich trage alles bei mir. Das Hotel ist viel zu billig, um irgendwelche Wertgegenstände dort deponieren zu können.

Der Schraubstock an meinem Hals weckt mich auf, erinnert auch daran, dass nicht viel Zeit bleibt. Aus der rechten Seitentasche – das grosse Geld ist woanders versteckt – ziehe ich langsam zwei Scheine. Was folgt, geschieht rasend schnell. Weil jetzt Jean-Michel, der Verführer und Strassenräuber, seinen ersten und letzten Fehler begeht. Die Geldgier lässt ihn nach der Beute schnappen, er löst eine Hand, ich schlage mit meinen Fäusten gegen seine Halsschlagader, er taumelt für Sekundenbruchteile, greift nochmals nach mir, erwischt mich nochmals, aber nicht mehr stählern genug, ich kann mich losreissen und anfangen, in persönlicher Rekordzeit die rue du commerce entlanghetzen. Ich muss wohl. Sein Atem und die hinterhergeschleuderten Flüche begleiten mich bis kurz vor das Hotel. Nur dreissig Meter davor dreht er ab. Erst jetzt fühle ich den Schock.

Leseprobe, drei:

Monrovia, Liberia. Hinter der Tür wartet bereits Moses. Er will auch Dollar, aber die amerikanischen. Und nicht fünftausend, sondern eine halbe Million. Schon gestern fing er an mit einer phantastischen Geschichte. Sein Bruder hätte letztes Jahr aus den verkohlten Überresten einer geplünderten Bank eine Kiste herausgezogen, Inhalt: 500.000 US$. Cash. Einziger Haken: Jeder Schein wäre eingeschwärzt, als Sicherheitsmassnahme. Doch könne man diesen Belag abwaschen. Mit einer chemischen Flüssigkeit, die im Land unter dem Decknamen Costafix bekannt ist. Nichts anderes tauge. Aber die Lauge sei extrem teuer. Mindestens 20.000 Dollar wären notwendig, um alle Bündel zu reinigen. Ich solle den Kies vorstrecken, meinte er. Um hinterher vierzig Prozent einzustreichen.

Die Story klang so einmalig erstunken und erlogen, dass ich zurücklog, sofort zusagte. Auch zu schwach und zu neugierig war, um auf ihr Ende verzichten zu können. Natürlich unter der Bedingung, dass sie mir Beweise lieferten. Und deswegen steht Moses schon ungeduldig am Eingang, will mich abholen zur Verabredung mit Harris, dem Bruder und Kistenbesitzer.

Langwierige, schweisstreibende Umwege, um alle Spuren zu verwischen. Keiner soll wissen, in welche Richtung wir verschwinden. Bis wir nachmittags(!) einen dunklen Bretterverschlag betreten. Und warten. Auf Harris, der irgendwann auftaucht, die Tür mit zwei Vorhängschlössern zusperrt, zwei Kerzen anzündet, einen vollen Wasserkübel aufstellt, einen Packen rabenschwarzer Scheine herauszieht und ein winziges Fläschchen mit einer transparenten Flüssigkeit öffnet.

Schau, sagt Harris, das ist das Costafix. Die paar Tropfen allein kosten einen Hunderter. Dann schmiert er ein. Und aus dem Papier wird auf wundersame Weise Geld, look, green, green money. Die dunkle Schicht verschwindet. Zuletzt nachspülen mit Wasser, trocknenlassen. Mit drei chemisch gereinigten 10 US$-Noten kehren wir zurück ins Zentrum. Der nächstbeste Geldwechsler nimmt sie anstandslos entgegen. Moses und Harris grinsen souverän.

Schon toll inszeniert. Auch arbeitsintensiv und mit allen Ingredienzen eines profitablen Coups vorbereitet. Aber Costafix ist die bravouröse Idee eines gerissenen Brüderpaars. Auch ihr erster Einfall, dass amerikanische Regierungen ihre Banknoten mit dubiosen Substanzen einschmieren, um sie zu sichern, auch das hat Format. Besonders in einem Land wie Liberia, wo das Sichern von Bargeld zur allerersten Bürgerpflicht gehört.

So bekommen sie von mir auch ein Märchen erzählt: Dass unser Deal steht, dass ich morgen nur noch schnell zurück nach Europa muss, um die zwanzig Riesen abzuholen. Damit ich sie in vier Tagen ordnungsgemäss bei ihnen abliefern kann. Um dann – endlich – gemeinsam eine Nacht lang den Geldhaufen zu waschen. Dreihunderttausend für sie, zweihunderttausend für mich. Wie ich mich freue.

Am nächsten Tag muss ich tatsächlich das Land verlassen. Mein 48-Stundenvisum läuft aus. Moses sitzt neben mir im Taxi. Er hat grösstes Interesse, dass nichts mir widerfährt. Wie vergeblich. Denn jetzt, an diesem Sonntagvormittag, habe ich Zahltag, muss für alle Lügen und Lügengeschichten bezahlen. An der letzten Strassensperre vor dem Flughafen sagt ein ghanischer Soldat noch: Bete für mich, dann kann ich nach Hause gehen. Ein letzter Lacher. Minuten später holt eine Adrenalinkeule aus.


Weit weg vom Rest der Welt- in 90 Tagen von Tanger nach Johannesburg

Rowohlt Verlag

Neuausgabe Juni 2007

(erweitert um 40 Seiten, ein Nachwort und Fotos von Michael Martin)
Federking & Thaler Verlag

Kurzbeschreibung

In Tanger, der dunkelsten und geheimnisvollsten Stadt des Maghreb, beginnt Andreas Altmann seine Reise entlang der afrikanischen Westküste. Die Westsahara, Mauretanien und Mali mit dem legendenumrankten Timbuktu sind die ersten Stationen einer Strecke, reich an faszinierenden Erlebnissen, aber auch voller Hindernisse und Gefahren. Die Reise entwickelt sich bald zum Abenteuer, das ohne Glück und Schmiergeld nicht zu überleben ist.

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