Leseprobe
Widmung
Dieses Buch gehört allen, die mir irgendwo, irgendwann auf der Welt über den Weg liefen. Nein, gewiss nicht allen. Es gilt nur jenen, die mein Leben reicher machten. Den trägen Säcken, die gern anderer Leute Nerven mit ihrer Trägheit strapazieren, die gern Verbote bellen und ihre bigotte Moral verkünden, sie sollen zur Hölle fahren. Die Großmütigen – großer Mut! – aber, die Weltverliebten, sie dürfen hochleben: jene, die mich bei der Hand nahmen und mir Gedanken schenkten, von denen ich vorher nichts wusste, ja, mich mit Gefühlen und Nähe verwöhnten, die mein Leben in diesen Tagen und Nächten behüteten, mich nährten und beflügelten, ja, mir vertrauten und nie mein Vertrauen aufs Spiel setzten. Bis zum letzten Stündlein will ich für sie das Lied der Dankbarkeit singen.
Louis Aragon:
Sagen Sie diese Worte – „Mein Leben“ – und halten Sie Ihre Tränen zurück.
John Lee Hooker:
Jeder Tag ist wie ein neues Lied. Ich stehe auf, gehe auf die Straße, gehe in ein Café, sehe Menschen, schöne Frauen und der Tag schreibt ein Lied.
L. Doctorow:
Gibt es ein Leben nach dem Tod? Klar, aber nicht deins.
VORWORT
Ein Kind schrieb der neunzigjährigen Astrid Lindgren zum Geburtstag: „Wenn man deine Bücher liest, dann will man leben, einfach nur leben.“ Ist das nicht ein wunderbares Geschenk an eine Autorin? Der schriftliche Beweis, dass man andere zum Leben anstiftet?
Ob im Jahr 2050 ein Kind an den dann neunzigjährigen Reed Hastings, den Mitbegründer von Netflix, auch einen solchen Satz schreiben wird? Oder einen ganz anderen, einen wie den: „Lieber Reed, danke, dass du uns gleich serienweise dazu eingeladen hast, ein Drittel unserer Lebenszeit auf einem Sofa zu lümmeln und anderen beim Leben zuzuschauen.“
Als ich einmal auf dem Highway One Richtung San Francisco fuhr, bog ich links ab auf den Parkplatz eines McDonald’s, ich war müde, wollte einen Kaffee trinken. Am Eingang hing ein Poster mit dem Portrait eines Teenagers, darunter stand: „I work here. It’s a job that fits my life. Apply!“
Verstanden, die einen denken, dass lauwarme Semmeln einpacken Lebenssinn verspricht, und die anderen laden uns 24 Stunden pro Tag ein, auf einer Couch zu kuscheln und dort unser ein und einziges Leben zu verhocken.
Was Missis Lindgren wohl dazu gesagt hätte? Gelacht hätte sie, dann alle ins Freie gejagt und uns mithilfe von Pippi Langstrumpf nachgerufen: „Das haben wir noch nie probiert, also geht es sicher gut.“
Ich liebe immer die, die zum Leben anstacheln, und gehe stets jenen Damen und Herren aus dem Weg, die es verhindern. Aber ja, sie sind schwer in der Übermacht und schwer erfolgreich: Trödeln ist so verführerisch und Losziehen und Ungewissheit aushalten so fordernd.
Ich will Astrid nacheifern. Will wie sie ein Lebensbuch nach dem anderen in die Welt schicken. Und wenn es Leserinnen und Leser gibt, die es aufschlagen und sich mitreißen lassen von der Sehnsucht nach Innigkeit und Anderssein, dann will ich niederknien und Himmel und Erde danken. Für das Glück, weniger einsam zu sein.
Wie verlockt man jemanden zur Liebe zum Leben? Ihm zureden? Ganz sinnlos. So aussichtslos, wie einem Alkoholiker zu erzählen, dass er das Saufen aufgeben soll. Wie fad, er kann es nicht mehr hören.
Ich habe auch kein Rezept. Klar hilft es, wenn ein Menschlein in einem Elternhaus aufwächst, wo sie ihn nicht mit Leitfäden zum braven Leben schikanieren, stattdessen ihn täglich anspornen, ein Einzelstück zu werden, einer eben, der sich in keine Herde verirren will, einer gewiss, der dafür sorgt, dass seine Würde unantastbar bleibt.
Kein Sturm, immer nur Wetter! Der Satz könnte auf vielen Grabsteinen stehen. – Und darf es doch nicht.
Ich würde einem Kind, hätte ich eins, eine Tagebuchnotiz von Saint-Exupéry schenken, dem französischen Schriftsteller. Freilich kein Allheilmittel gegen die Trägheit des Herzens und die penetrante Lust, dem Leben aus dem Weg zu gehen, aber in seinen Zeilen liegt eine grandiose Weisheit: „Wenn du ein Schiff bauen willst / So trommle nicht die Menschen zusammen / Um Holz zu beschaffen / Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen / sondern lehre die Menschen die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“
Das ist es: Irgendeine Metapher muss einschlagen, ein Schrei, ein Orkan, ein Unfall, ein großes Pech, irgendetwas, was den Döser erweckt. Ist das geschehen – diese Begeisterung für das weite, endlose Leben –, dann geht es ihm wie dem Liebhaber der Meere: Er wird das „Handwerk“ des Lebens lernen, und er wird es entdecken und feiern.
Das Buch versammelt Geschichten von Leuten, die leben und gelebt haben. So intensiv, so oft vom Risiko überschattet, so beherzt. Frauen wie Männer. Ich treibe mich gern in ihrer Nähe herum, immer von der Illusion getrieben, eine Unze ihrer Waghalsigkeit fiele auf mich ab. Zudem bin ich Reporter, und Reporter sind Räuber. Sie hören Storys und klauen sie. Um sie am anderen Ende der Welt zu veröffentlichen. Manchmal, um zu denunzieren (auch mutigen Schweinehunden begegnet man). Oft, um das hohe Lied der Betroffenen zu singen.
Die hier vorliegenden Texte wurden bereits, mit wenigen Ausnahmen, in deutschen und internationalen Magazinen veröffentlicht. Vor Jahren. Für die Buchausgabe habe ich sie gründlich überarbeitet. Warum?
Viele Gründe, der erste: Weil ich mir größenwahnsinnigerweise einbilde, dass ich mich als Schreiber entwickelt habe, bin nicht mehr so ergriffen von mir, bin misstrauischer den eigenen Gefühlen, ja, noch misstrauischer den großen Gefühlswallungen gegenüber geworden. Mein moralisches Wertesystem bekam Dellen. Bin ich tatsächlich so „human“, wie ich mir einbildete? So garantiert auf der „richtigen“ Seite? Meine letzten Scheinheiligkeiten bröckeln.
Ein Text wird immer besser, wenn: er lakonischer daherkommt, ruhiger, nicht so inbrünstig, nicht so zugebombt von Superlativen, nicht so heldisch. Ach, las ich doch vor einiger Zeit die Zeilen eines Recken, wie er, bei seiner Arbeit als Berichterstatter, „routiniert am Abgrund balanciert“. So ähnliche Kraftmeiereien habe ich auch einmal fabriziert, sie klingen heute nur noch läppisch.
Ein Text wird immer besser, wenn: er mit weniger Wörtern auskommt. Wenn er „keuscher“ wird, an Adjektiven spart, den Leser mit Detailhuberei verschont, wenn bisweilen „Ich weiß es nicht“ dasteht.
Manche Gedanken, die mir vor zwanzig Jahren gefielen, fallen jetzt durch. Da zu dämlich oder zu fügsam oder zu radikal. Neue Gedanken müssen her. Deshalb die erneute Beschäftigung mit den Geschichten.
Und das noch: Für vieles, was ich bei einer Recherche erlebte, war kein Platz: weil die Seitenzahl vorgegeben war, weil ich mit dem Gesetz in Konflikt kam, weil zu intim. Mit einem Buch ist das anders, es ist das letzte Refugium für einen Autor. Und für die, die es genauer wissen wollen.
Soweit mein mea culpa. Aber natürlich gab es auch „äußere“ Gründe, warum ich nochmals an die Reportagen ranmusste. Hier eine Anekdote: Während eines gemeinsamen Abendessens mit einem Freund, ebenfalls Reporter, bei dem wir uns in Rage redeten über die Metzeleien, die Redakteure an unseren Manuskripten verübten, beschloss ich beim Verlassen des Restaurants, dass ich die bunten Heftchen satthatte und nur noch Bücher schreiben würde: da zu viel Zensur, zu viel Rechthaberei, zu viel Panik vor den Lesern, die man auf Biegen und Brechen vor gewissen Meinungen und Tatsachen schützen wollte. Die Seuche „politische Korrektheit“, diese feige Angst vor der Wirklichkeit, ging um. Geht um.
Und – manchmal sind mir die Tränen gekommen: Losgetreten von diesem Mangel an Sprachgefühl, mit dem so mancher der „Textbearbeiter“ geschlagen war. Metzger bei der Arbeit, jeder zwei Hackebeile in den Händen. Wäre Sprachschändung ein offizielles Verbrechen, ein Dutzend dieser paper pushersäßen heute nicht als Pensionäre herum, sondern als Knastbrüder – tausend Mal lebenslänglich absitzend.
Und ein letzter Grund, hier der entscheidende Moment: Ich besuchte ein Lager der „Ärzte ohne Grenzen“ im Süden Sudans. Irgendwann sah ich den achtjährigen Deng mit seiner Krücke hereinschlurfen und sich auf den Boden kauern. Als er wieder aufstand, musste er wie ein Dromedar die Erdanziehungskraft überwinden, musste die wenige Last zuerst auf die Knie verlagern. Kniete er endlich, stellte er den Stock vor sich auf und zog konzentriert sein 126 Zentimeter langes und fünfzehn Kilo leichtes Knochengerüst mit dem parasitenverseuchten Wasserbauch nach oben. Ein halbes Hundert gefräßiger Fliegen schmarotzte gerade an den vereiterten Eingängen seiner Haut.
Als die Reportage in einer Zeitschrift erschien, stand links der Bericht, und rechts sah man auf eine ganzseitige Werbung für eine nagelneue Limousine, sündteuer.
Das fand ich frivol, irgendwie schamlos. Eben ein nächster Antrieb, zu Büchern zu flüchten. Zu einem der letzten Freiräume, wo der Mensch nicht von Aufrufen nach noch mehr Plunder und Blech gejagt wird. Bücher haben etwas von Zen, so viel Klarheit: nur weiße Blätter, nur schwarze Buchstaben. Und dazwischen die Welt. Was für Aussichten.