SEHNSUCHT LEBEN

Vorwort

Vor nicht langer Zeit erzählte mir ein Freund, dass er sich verliebt hatte. Auf einem Festival. Nach vier Tagen schworen sie sich gegenseitig Liebe. Dann mussten sie auseinander, jeder zurück in seine Stadt. Mit dem feurigen Versprechen, sich so bald, nein, so schnell wie möglich wiederzusehen.

Zwei Wochen später besuchte er sie, die neue Liebe. Und nach zwei Stunden, so ungefähr, krachte es. Zu verschieden ihr beider Blick auf die Welt, zu diametral ihre Pläne für die Zukunft, zu rechthaberisch sie, zu rechthaberisch er.

Ach, mit welchem Donner war er angereist. Und welch stille Heimfahrt.

Ich umarmte meinen Freund und tröstete ihn mit dem Hinweis, dass derlei Desaster uns allen passieren. Weil wir Menschlein immer derselben Versuchung unterliegen: nicht das zu sehen, was ist, sondern das, was wir sehen wollen.

Die Sehnsucht ist ein vielschneidiges Schwert. Und die Sehnsucht nach Liebe wohl die gefährlichste. Jede weiß es, jeder weiß es. Dennoch, alle treibt sie an, aber nicht alle kommen ans Ziel. Ich kenne Leute, die nahmen ihre Sehnsucht mit ins Grab. Zu fordernd war sie, zu hochtrabend, zu unerfüllbar.

Die einen sehnten sich nach dem Traummann, die anderen nach der Traumfrau. Sie haben nie begriffen, dass es die beiden nicht gibt. Sie wollten keine echten Menschen, sie wollten den Traum.

Todesursache: Überdosis Illusionen.

Sorry, ich bin leicht vom Thema abgekommen. Hier soll die Sehnsucht nach Leben verhandelt werden. Und doch, die zwei Sehnsüchte haben etwas gemeinsam, das Wichtigste: Sie müssen in der Nähe der Wirklichkeit angesiedelt sein.

Ein – rein theoretisches – Beispiel, durchaus lustig und aberwitzig: Ich träume davon, eines Tages wie Shakespeare schreiben zu können. Das ist ein ungeheuer vorlauter Traum, der nie in Erfüllung gehen wird. Auch dann nicht, wenn ich täglich von zehn Literaturnobelpreisträgern unterrichtet werden würde, nicht, wenn ich zuletzt nur noch aus Buchstaben und Worten bestünde. Es ist ein schwachsinniger Traum, an dem ich zerbräche. Denn zwischen mir und dem Genie des englischen Weltwunders liegen die tausend Sonnen, die nur ihm gehören.

Bin ich einsichtig, dann erlaube ich mir zu jedem Jahresende die Sehnsucht, dass ich die nächsten zwölf Monate ein, zwei Nuancen eleganter mit der deutschen Sprache umgehe – federleichter, geschmeidiger, raffinierter. So eine Sehnsucht ist realitätstauglich, die schaffe ich. Bisweilen.

 

Martin Walser: Abends gehen wir der Sehnsucht ins Netz.

 

Sehr stimmig. Nachts liegen wir im Bett und spüren, dass manches nicht stimmt: entweder die Frau nicht oder der Mann oder der Beruf oder das ganze Leben. Und dann sehnen wir uns und träumen.

 

Nelly Sachs: Alles beginnt mit der Sehnsucht.

 

Gut so. Fantasie als erster Schritt in eine verlockendere Zukunft. Nur sollten sich die Wünsche nicht überschlagen, nicht zu größenwahnsinnig, nicht zu gigantomanisch unser Herz besetzen. Solche Kopfgeburten landen im Aus, sie ersticken uns, kommen nie zur Welt.

»Alles ist möglich«, was für ein esoterisches Gebabbel, was für eine Abzocker-Phrase für Coaches, was für eine Einladung zum Unglücklichsein.

Eine Sehnsucht – eine realistische (!) – vom Kopf ins tatsächliche Leben zu zerren: Das fordert Schneid und die Bereitschaft, Niederlagen auszuhalten. Und jeden Tag dem Gravitätsgesetz zu widerstehen – das so penetrant zu Trägheit und Stillstand verführt.

Sein Leben upgraden, das ist ein anstrengendes, ein grandioses Unternehmen. Doch wie selig der Mensch, der da ankommt, wo er hinwollte. Er genießt den Triumph umso mehr, je zäher er dafür geschuftet hat. Lieber nicht hoffen, nicht beten, nicht »Wünsche ins Universum schicken«, vielversprechender wäre: einen Plan machen und sich ein Ziel einprägen. Und dann loslegen.

Wie ängstigend wäre die Vorstellung, ziemlich dem Ende entgegen, dass man nicht das Leben hatte, das man sich vorstellte. Dass man aus irgendeinem Grund – und Gründe gibt es viele – irgendwann falsch abgebogen ist. Aus Bequemlichkeit, weil geistig träge, weil leichtfertig trügerischen Spuren gefolgt.

Die Tapferen beichten Fehler, die weniger Mutigen suchen nach Ausreden. Und verteilen die Schuld auf die Eltern, die Schule, die Gesellschaft, auf immer andere. Wer nun tatsächlich verantwortlich ist, ist dem Leben egal. Es blühte nicht, und das ist eine traurige Nachricht.

 

Michael Houellebecq: Alles kann im Leben passieren – vor allem nichts.

 

Das ist eine bedrohliche Bemerkung. Das Nichts ist ein Todesurteil. Ein bisschen Glut sollte schon sein. Und die Freude am Leben – um die heillosen Tage zu überstehen. Und Poesie, das wäre das Vergnügen, denken und fühlen zu wollen. Und auf einer Arbeit bestehen, die bereichert – und nicht in den Stumpfsinn treibt. Und von einer Handvoll Menschen wissen, die einen lieben. Und – wichtiger – selbst lieben, ein paar Frauen und Männer entlang der Zeit.

Das ist unglaublich viel verlangt, aber das Leben darf das. Es ist ein einmaliges, einzigartiges Geschenk. Wer es nicht achtet, wer nichts dafür hergeben will, der bekommt kein Leben. Bekommt nur Jahre, die glanzlos an ihm vorbeiziehen.

 

Über dem Eingang einer Kneipe in Cali, in Kolumbien, stand: »Me gusta la gente que vibra, que no hay que empujar, que no hay que decirle, que hagan las cosas«, mir gefallen die Leute, die vibrieren, die man nicht anschubsen muss, denen man nichts anschaffen muss, die einfach machen.

»Vibrar«, vibrieren, das ist ein treffliches Synonym für das Wort leben.

Am nächsten Morgen, noch immer in derselben Stadt, bat ich die Rezeptionistin um eine Quittung für meine vorausbezahlten Nächte. Die vielleicht 20-Jährige kam eher schleppend voran, da sie jeden Buchstaben auf dem Computer suchen musste. Das Hotel war fast leer, sie hätte sicher viel Zeit gehabt, um ihre Fertigkeiten zu verbessern. Doch neben dem Laptop stand ein Fernseher, wo gerade eine Soap mit schönen Menschen zu sehen war. Sie konnte den Blick kaum abwenden, man spürte, dass sie dazugehören wollte. Hier wollte sie nicht sein. Sie wollte aber auch nicht kämpfen, sie schaute lieber auf eine Welt der gut aussehenden Lügen und Märchen.

Consuela, so soll sie heißen, trieb eine Sehnsucht um, die keine Folgen haben wird. Das ist schmerzhafter, als gar keine Sehnsüchte zu haben. Denn der Frust wird sich in ihr Herz bohren und dort schwären. Auf ewig.

Aber ja, Glück sei willkommen – auf dem Weg zu dem, was man sein und haben will. Der reine Wille reicht nicht.

Um zu erklären, auf wie vertrackte Weise das Glück einem zugutekommen kann, darf ich kurz von mir berichten. Denn ich hatte Glück, ich hatte es leichter als viele.

Ich wuchs in einem Sumpf aus Anmaßung, Bigotterie und Gewalt auf, in einem Kraal unauslotbarer Ignoranz. Kein Wunder, dass die Sehnsucht nach einem anderen Leben zu übermächtig wurde, um nicht eines Tages, noch minderjährig, davonzurennen. Weg in die große weite Welt.

Und nochmals Glück, da ich für alle Studien und Berufe, die ich fast zwanzig (!) Jahre lang ausübte, auszuüben versuchte, nicht taugte. Zu minderbegabt? Zu unwillig? Zu müßig? Vielleicht die drei zusammen.

Und doch, welch Glückssträhne! Denn am Ende dieses Abstiegs entdeckte ich die deutsche Sprache, das Schreiben, tatsächlich ein Tun, das mich begeisterte. »Last Exit«, absolut letzte Ausfahrt Richtung Sinn, Richtung Innigkeit und Anerkennung. Und – wie irdisch und erfreulich – Geld, das ich für Anstrengungen kassierte, die zu überwinden ein Gefühl erstaunlicher Befriedigung auslöste.

Gewiss, manche Leute in meiner Umgebung waren heller als ich, kamen früher an. Ich brauchte die Umwege.

»Sehnsucht Leben« heißt das Buch, und es besteht (fast) ausschließlich aus Geschichten von Frauen und Männern, die ich beneide und bewundere. Die mich – ohne es je auszusprechen – antrieben, ja mich ansteckten mit ihrem Lebenswillen und der unbedingten Bereitschaft, jeder Art trübsinnigen Daseins aus dem Weg zu gehen.

Manche von ihnen strandeten. Ich vermute, sie mussten ohne Glück auskommen, ohne »serendipity«, diesen glückreichen Zufall, der anschiebt in Notzeiten.

Ich erinnere mich an ein Interview mit einem französischen Gefangenen, der wegen zentnerschweren Kokainhandels einsaß. Ich stellte ihm die denkbar banalste Frage: »Warum haben Sie das getan?«, und Luc antwortete auf überaus verblüffende Weise: »Weil ich mein Leben nicht liebte.«

Der Satz gefiel mir. Aber ja, die Liebe zum Leben ist die Mutter aller Sehnsüchte.

 

 

 

 

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