Leseprobe, eins:

Drei Ecken von meiner Pariser Wohnung entfernt haust ein Clochard. Wir kennen uns seit Jahren und er begriff rasch, dass ich ein schlechter Mensch bin. Denn jedes Mal, wenn er die Hand ausstreckt, muss er mir eine Geschichte erzählen. Erst dann bin ich bereit, mich von ein paar Francs zu trennen. Das folgende Märchen ist das Beste, was Thierry bisher produziert hat. Ausnahmsweise gab es dafür einen Schein: 

Zwei Brüder begeben sich auf eine Weltreise. Eines Tages reist einer von ihnen ein Stück voraus und erreicht eine neue Stadt. Er fragt den Mann am Tor: „Wie sind die Leute hier?“ Und der Alte fragt zurück: „Wie waren sie denn in der Stadt, aus der du kommst?“ – „Nun, sie waren freundlich, redlich und hilfsbereit.“ Da sagt der Alte: „Gut, so wirst du auch hier Freundliche, Redliche und Hilfsbereite finden.“ Tage später kam der andere Bruder, auch er fragt den Wächter: „Wie sind sie hier, die Menschen?“ Der Alte stellt die gleiche Frage: „Wie waren sie in der Stadt, aus der du kommst?“ Und der Bruder: „Sie waren bösartig, hinterlistig und faul.“ – „Nun, so wirst du Frauen und Männer treffen, die bösartig, hinterlistig und faul sind.“ 

Wir sitzen im Schnellzug, Richtung Süden. Neben mir Uli Reinhardt, der Fotograf, er übernimmt die Rolle des ersten Bruders, er trifft seit langem die Freundlichen und Geduldigen. Er kann das, er ist selber freundlich und geduldig. Ich bin der andere Bruder. Ich schaue zum Fenster hinaus und bilde mir ein, meine rechte Schuhsohle zu riechen. Dreißig Meter vor Erreichen des Bahnhofs trat ich in eine „déjection canine“. Das wäre der offizielle Name für die Haufen „hündischer Absonderung“, von denen täglich sechzehn Tonnen auf die französische Hauptstadt niedergehen. Als ich anschließend – mit dem Rucksack bepackt und auf einem Bein balancierend – die Sohle reinigte, wurde wieder klar, dass die Erde umrunden ein Traum ist und hundsgemeinen Stress verspricht. Von Anfang an.

Dennoch, so mancher Reisende kennt das Gefühl: Wie begehrenswert seine Stadt plötzlich aussieht, wenn er sie verlässt. Gefühle von Dankbarkeit und Anhänglichkeit brechen aus. Ich sehe einen jungen Kerl – nicht zehn Meter vom Zugfenster entfernt – seiner Freundin durchs Haar streichen. Und will mir einbilden, die zwei und die lausige Caféterrasse, auf der sie so nahe nebeneinander sitzen, gehören zum Bestaussehendsten, was die Welt augenblicklich zu bieten hat. „Es gibt nur ein auserwähltes Volk“, behauptete der englische Schriftsteller Graham Greene einmal, „eben jenes, das in Paris lebt.“ 

Leseprobe, zwei:

Kalkutta strengt an. Ich finde den „Royal Hair Saloon“, das wären zwei mal zwei Meter Bruchbude. Aber Friseurläden sind – gerade in einer fordernden Umgebung – wunderbare Stätten der Erholung: Schweißgebadet den Hals auf eine drei Generationen alte Nackenstütze legen, den Wind des Ventilators fühlen, „get me a shave, please“ murmeln, das feuchte Handtuch auf dem Gesicht spüren, die zarten Friseurhände darüber, eine erste Massage genießen, schließlich die Augen öffnen und Dasgupta zuschauen beim – was für Seele schonende Geräusche – Schaum schlagen und das Messer am Lederriemen schleifen. Auf unwiderrufliche Weise weiß der Kunde in einer solchen Stunde, dass ein anderer die allernächste Zukunft übernimmt, dass sie sicher ist und nur Gutes bereithält.

Hinterher reden und rauchen wir, zu dritt, Dasgupta und Subhoranjan arbeiten zusammen, der eine 75, der andere 76 Jahre alt. Manchmal kommt ein Kunde, niemand muss warten und nie eine Spur Hektik. Umsichtig gehen sie mit den Ressourcen um, zuletzt wird ein minimaler Betrag kassiert und die getane Arbeit plus Einkommen säuberlich in einem Schulheft notiert. Die Übersicht behalten, auch das mögen die Bengalen. 

Ich spüre in Asien, wie mein Respekt vor alten Männern und Frauen zulegt, irgendwann stelle ich Dasgupta meine Lieblingsfrage: „You lead a happy life?“ Und der Alte lässt den revolutionären Satz los: „Old life, happy life.“ Dann deutet er grinsend mit der Rechten nach oben: „In two, three years, I go.“ Wieder einer, der nicht nein sagt. Nicht zum Dasein, nicht zum Verschwinden. 

Leseprobe, drei:

Medellin, Kolumbien. Mit Taxifahrer Victor zum Grab von Pablo Emilio Escobar. Einst Kokain-König der Welt, einst gut gelaunter Mörder, einst ordentlich gewähltes Mitglied des Parlaments, einst Staatsfeind Nummer Eins. Bis zu jenem Abend im Dezember 1993, an dem ihn Mitglieder einer 1500 Mann starken Elitetruppe nach 499 Tagen und Nächten Jagd niederstreckten.

Der Besuch erheitert. Pablo ist auf dem Friedhof „Montesacro“, dem heiligen Berg, begraben. Gepflegte Anlage, Bäume, Rasen, feiner Fleck zum Totsein. Frische Blumen liegen auf dem Marmorblock von Santo Pablo, der gemeisselte Spruch ist unsäglich komisch: „Solange es den Himmel gibt, gibt es deine Monumente. Und dein Name wird überleben wie das Firmament.“

Umso komischer, als mich Victor nun an den Ruinen der einmal so florierenden Escobar Incorporation vorbeifährt. An Hotels, Privathäusern, Supermärkten, Shopping Centers, seit Jahren leer, leer geplündert, in manchen landete eine Bombe, der Russ noch sichtbar, inzwischen vernagelt, verwaist, vergessen. Immer wieder ergreifend, wie Worte taugen („…dein Name wird überleben wie das Firmament“), um von der Wirklichkeit abzulenken.

Der Taxifahrer erzählt von „el Catedral“, dem Spezialgefängnis, das eigens – „höchste Sicherheitsstufe“ – für Escobar gebaut wurde. Nachdem sich der Mulitmillionär freigekauft hatte, wurde das Prachtschloss von der Bevölkerung geplündert. Bis keine Türklinke übrig blieb.

Ich frage Victor, ob er glücklich sei: „Ja, das Leben macht mich glücklich.“ Denn hier in Medellin gäbe es „calor humana“, menschliche Wärme.

Und ein Verlangen nach Dichtung. In einem Buchladen lerne ich Alina kennen. Die Studentin der Literaturwissenschaften überreicht mir eine Broschüre, die das „elfte internationale Poesiefestival“ ankündigt, mit hundertdreizehn Dichtern aus dreiundsiebzig Ländern, darunter Kaliber wie Nobelpreisträger Wole Soyinka.

Abends gehen wir aus. Und die Grosstadt funktioniert wie jede andere. Alina und ich sitzen auf der Terasse eines Restaurants, romantische Musik seufzt, am Nebentisch wird bereits geschmust. Aber jetzt kommt etwas, was anders ist. Anastasio, der „freelance-poeta“, so stellt es sich vor, tritt auf. Sicher der 114. Dichter. Und will Geld fürs Dichten. Da ich nie was herausrücke ohne Gegenleistung, schlage ich ihm vor, in seinem Kopf nach einem Gedicht zu suchen, das vom Lebensgefühl der Einwohner Medellins erzählt.

Tatsächlich, nach einer halben Stunde kommt der Alte zurück und liefert. Kein Gedicht, nur eine Zeile. Die klingt pathetisch und stimmt genau: „Amaneció y viveré otra vez“, die Sonne ging auf und wieder werde ich leben.


Erstveröffentlichung 2002

Einmal rundherum – Geschichten einer Weltreise

Rowohlt-Verlag

Kurzbeschreibung

Mit der Eisenbahn von Paris nach Genua beginnen Andreas Altmann und Fotograf Uli Reinhard eine Reise um die Welt. Per Schiff geht es weiter nach Tunis und anschließend auf dem Landweg durch die arabischen Länder … In den Schlaglichtern dieser Reise entsteht ein einzigartiges Panorama der Welt.

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