Eine Leseprobe:

Zum Bahnhof, Ajax, die hundertachtzehn Jahre alte Lok wird startklar gemacht. Zwei „coal-men“ kümmern sich um die Kohle, einer sitzt obendrauf und verkleinert sie, einer schaufelt sie in den Ofen, zwei „brakes-men“ checken die Bremsen und hantieren mit Ölkännchen, Lokführer Mister Bishnas, ein Bengale, tutet und Mister Raj, Gurka und erster Assistent, lässt Tee kommmen und erklärt alles. Auch die Funktion der Bremser, die sich nach Abfahrt auf die drei Wagons verteilen und per Hand die Bremsklötze festziehen: sollte einer der Wagen sich auskoppeln und rückwärts zu jagen beginnen. Die Funktion des dritten Bremsers wird Mister Raj selbst übernehmen. Wichtig noch das Kabel, das sich über die drei Dächer bis vor zur Lok spannt und als teuflisch raffinierte Sicherheitsmassnahme funktioniert. Denn beim Auseindanderdriften der Wagen dehnt sich das Seil und löst ein Klinngelzeichen aus. Um den Bremser aufzuwecken, für den Fall, dass er das Auskoppeln und Lossausen Richtung Abgrund verschlafen haben sollte. Koppelt sich nichts aus, dann jagt niemand, die Durchschnittsgeschwindigkeit beträgt dreizehn Kilometer pro Stunde, bei formidabler Tagesform gleich sieben Kilometer schneller. Bergauf nicht ganz so schnell.

Um 9.55 Uhr legen wir los. 87,48 Kilometer, 908 Kurven, 550 Brücken, Asiens höchste Eisenbahnstation, 7008 Feet Höhenunterschied, 122 Jahre Geschichte und „der amüsanteste Tag, den ich auf Erden verbracht habe!“ laut Mark Twain – liegen vor uns. Da noch Tau auf den Schienen glänzt, nehmen ab sofort die beiden „sand-men“ ihre Position an der Spitze der Lok ein und streuen Sand auf die Eisen. Damit der Zug nicht ausrutscht, damit wir, sollten wir nicht nach hinten lospreschen, auch nicht nach vorne durchstarten und mit Vollgas an der nächsten Biegung zerschellen.

Fährt die Eisenbahn nicht, sind die Gleise besetzt. So rennen jetzt Hausfrauen aus den Häusern und räumen ihre Wäscheständer auf die Seite, Gemüsefrauen holen ihr Gemüse ein, Hunde trollen sich, ein Automechaniker plaziert seine zwei frisch gestrichenen Autotüren woanders, ein Friseur verrückt kurzfristig seinen ambulanten Arbeitsplatz, bevor eine Zigarettenlänge daneben der „toy-train“, der Spielzeug-Zug, vorbeizieht. Die Geranien auf den Fensterbrettern streifen mein Gesicht, als ich es hinausstrecke, eine Grossmutter reicht mir von ihrem Balkon aus die Hand. Nach vierhundert Meter der erste Stop, eine Dachrinne wird ausgefahren, Wasser für den Dampf eingelassen, weiterkeuchen. Schulkinder laufen nebenher, springen auf, springen ab, lassen sich zurückfallen, preschen hinterher. Immer wieder überquert der Zug die einzige Strasse, ununterbrochen darf Mister Bishnas tuten, er hat immer Vorfahrt, ein Gefühl von Triumpf wird ihn wohl überkommen beim Anblick nervös trommelnder Autofahrer, die in ihren rasenden, augenblicklich bewegungslosen Vehikeln mitansehen müssen, wie der kleine Bengale ihnen im Schneckentempo den Weg abschneidet.

In der vierten Kurve sehe ich ihn stehen. Einen Zeitgenossen, den man in einem Menschenleben dreimal, vielleicht viermal, geschenkt bekommt. John, der Schotte, der Liebhaber, der Verrückte. Schon vorgestern beobachtete ich ihn am Bahnhof von Darjeeling, herumschleichenjd und alles fotografierend, was mit seiner Liebe und seiner Verrücktheit zu tun hat: „These marvellous steam locs!“ Seit vier Jahrzehnten kommt er immer wieder in diese Weltgegend. Andere suchen nach Gott, John, der Achtundsechzigjährige, sucht nach Dampf, nach Eisen, nach Bildern, die ihn versöhnen.

Alle vierhundert Meter ist der Umtriebige bereits vorhanden und hält seine Hasselblad 503 im Anschlag, mit Stativ, ohne Stativ. Da er seinen eigenen Fahrer hat, ist er Hase und Igel zugleich, überall schon da, die nächsten achtzig Kilometer schon an Ort und Stelle, auf einem Hügel, auf einem Dach, auf einer Brücke, hinterm Gebüsch, im Kofferraum seines Wagens, als Trittbrettfahrer vorne bei Mister Bishnas. Wie Tatis Monsieur Hulot sieht er aus, wunderbar staksig, wunderbar lang, wunderbar zerstreut und hochkonzentriert. Es wird behauptet, dass Spinner länger leben, intensiver leben als der Rest der Welt. Das glaubt man sofort. Weil Leidenschaft sie peitscht, weil sie immun scheinen gegen das zähe Gift des Alltags. Plötzlich denke ich, dass ich mich im Alter wie John aufführen will, der mit kindlicher Freude sein Feuer nährt, einer, der nervös einschläft und nervös aufwacht: Weil die Welt wartet, weil ihm schon wieder einfällt, was er alles noch nicht begriffen hat.

Man wäre nie auf die Idee gekommen, aber die Langsamkeit der Fahrt verschafft die vehementesten, die schaurigsten Gefühle. Weil wir tonnenschwer und im Schritttempo an Abgründen vorbeiziehen, von denen man nur weiss, dass sie abgrundtief weit unten enden, nicht aber weiss, ob die hundertzweiundzwanzig Jahre alte Brücke oder die hundertzweiundzwanzig Jahre alte Befestigung des Erdreichs noch einmal durchhält, gleichzeitig aber längst verinnerlicht hat, dass Indian Railways einen eher philosophischen Umgang mit so neuzeitlichen Begriffen wie Sicherheitstandards und Materialmüdigkeit pflegt. Über Stunden besetzt eine Mischung aus Ekstase und Angstschüben meinen Magen. Natürlich Ekstase. Weil jeder, der hier abstürzt, nie vergessen sollte, dass er dabei einen letzten sensationellen Blick auf einen Wasserfall oder Indien oder Bhutan oder den schneeweissen Kanchenjunga geniessen darf.

In Gayabari werde ich abgelenkt, weil eine sehr junge Frau und ein sehr junger Mann einsteigen. Bald kommt sie auf mich zu und fragt, ob wir miteinander reden könnten. Das ist nicht besonders mutig, einem Fremden passiert immer wieder, dass jemand auf ihn neugierig ist und nebenbei noch sein Englisch ausprobieren will. „Angel“ (so stellt sie sich tatsächlich vor) muss nichts ausprobieren, sie beherrscht die Sprache, wir reden. Der junge Mann ist ihr Bruder, bisweilen schaut sie zu ihm zurück, wenige Minuten später werde ich wissen warum. Die Frau hat drei Trümpfe, sie ist jung, sie ist schön, sie weiss, was sie will: In Kürze Gayabari verlassen und in Europa studieren. Auch das ist nicht mutig, ihre Eltern sind wohlhabend.

Mir fällt wieder ein: Die Gesichter der Nepalesinnen scheinen mir schöner als die der Inderinnen. Nein, das ist es nicht, Schönheit ist das falsche Wort, eher: Die nepalesischen Gesichter sind sinnlicher, nicht so reserviert, sie scheinen mir „moderner“, nicht so keusch und abgewandt der Welt. Nach sechs Kilometern und einer knappen Stunde, kurz vor Erreichen von Tindharia, ist es soweit. Angel wirft einen letzten Blick zurück, beugt sich nach vorn und schlittert mit ihren Lippen über meinen Mund. Von links nach rechts, damit es, so vermute ich, von hinten aussieht, als würde sie nicht küssen, nur in mein Ohr flüstern. Nach dem Schlittern steht sie auf und steigt aus. Das war jetzt mutig. Auch wenn ich weiss, dass der Kuss nicht mir galt. Einmal fragte sie mich, wo ich lebe. Als sie es wusste, entkam ihr ein Seufzer. Der Kuss war für Paris.


Erstveröffentlichung 2003

Notbremse nicht zu früh ziehen ! – Mit dem Zug durch Indien

Rowohlt Taschenbuch

Kurzbeschreibung

Die Grundregel jedes guten Reporters lautet: Nichts schon wissen, alles vor Ort erfahren. Andreas Altmann hat sich daran gehalten. Er hat sich in Bombay in den Zug gesetzt und ist einfach drauflosgefahren. Mit dem festen Vorsatz, Indien mit allen Sinnen in sich aufzunehmen. Altmann sucht den Menschen und er findet ihn, in Slums, Bordellmeilen, Hindu-Heiligtümern und in der drangvollen Enge der Indian Railways.

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