Andreas Altmann:

Ich habe mich oft gefragt, warum Europäer so verrückt nach Indien sind. Warum sie dort sein, dort reisen, dort sich alles zumuten wollen. Klar, Indien ist kein anderes Land – Indien ist ein anderer Kontinent, ein anderes Planetensystem. Mit nichts im Universum vergleichbar. Kein Fleck auf Erden ähnelt ihm. India is crazy. Der schreckliche, schöne Wahnsinn, der oft beschwingt und oft in den Wahnsinn treibt. Indien ist ein Weltwunder, das die Welt nur einmal zu bieten hat. Aber das ist es nicht. Oder nur bedingt. Was dann treibt uns, den Weißen Mann, die Weiße Frau, immer wieder dorthin? Meine Erklärung ist nur eine von vielen, aber ich weiß keinestimmigere: Wir wollen wissen, wie ein Mensch, sprich ein Inder, so glücklich sein kann. Wie geht das? Mit nichts, fast nichts. Während uns kein Glück – sagen wir, nur wenig Glück – gelingt. Dabei sind wir beladen mit Wohlstandsgerümpel wie nie zuvor. Wir haben so viel, und doch: Um kein Gramm wird unser Herz leichter, strahlender. Und sie haben so wenig und so viel Leichtigkeit. Natürlich wiederhole ich hier ein Klischee, das nicht immer zutrifft. Doch hundertmillionenfach stimmt es. Das ist das große indische Geheimnis. Auch Pasolini stand fassungslos davor, 1960/61, auf seiner Reise durch den Kontinent. Und wie wir anderen Indienfahrer vor und nach ihm kehrte er mit keiner eindeutigen Antwort zurück. Indien enträtselt niemand, Indien wirft um, betäubt. Ein Land als Droge. Wer es betritt, muss gewappnet sein. Die Suchtgefahr ist enorm.

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Noch ein klärendes Wort. Damit verständlich wird, warum AA sich mit PPP befasst. Ach, so einfach: weil er ihn verehrt. Den ehemaligen Volksschullehrer, der sein erstes homoerotisches »Wonnegefühl« beim Betrachten der Kniekehlen Fußball spielender Jungen empfand. Und den Freibeuter bestaunt, den Freigeist, den Moralisten, der auf die kirchenchristliche Moral des italienischen Großspießertums spuckte (das inbrünstig dem Duce zugejubelt hatte). Den Spätzünder bewundert, den Dichter, den Schriftsteller, das Allroundgenie, das irgendwann anfing, Filme zu drehen, die so wundersam leicht und schmerzhaft von der condition humaine erzählten. Pasolini war ein schöner, italienischer Mensch. Sein unerbittlicher Tod, noch heute ungeklärt, war der letzte Akt eines ungeheuer reichen Lebens.

Pier Paolo Pasolini:

Es ist beinahe Mitternacht, im »Taj Mahal« herrscht die Stimmung eines Marktes, der zu Ende geht. Das große Hotel, eines der berühmtesten der Welt, das von einer Seite zur anderen von hoch aufragenden Korridoren und Sälen durchbrochen ist (man hat das Gefühl, in einem riesigen Musikinstrument herumzuwandern), ist nur belebt von weißgekleideten boys und Portiers mit Gala-Turbanen, die darauf warten, dass zwielichtige Taxen vorbeifahren. Man sollte nicht, oh, man sollte keineswegs schlafen gehen, es ist nicht die richtige Zeit, sich in eines dieser schlafsaalgroßen Zimmer voller Möbel im Stile eines traurigen, verspäteten fin de siècle und mit helikopterhaften Ventilatoren zurückzuziehen. 

Dies sind meine ersten Stunden in Indien, und ich kann die durstende Bestie, die wie in einem Käfig in mir sitzt, nicht zähmen. Ich bringe Moravia dazu, wenigstens einen kurzen Gang vors Hotel zu machen, um ein wenig Luft von der ersten indischen Nacht zu atmen. Wir gehen also durch den Seitenausgang hinaus auf die schmale Uferstraße hinter dem Hotel. Das Meer ist friedlich und gibt keine Zeichen seiner Anwesenheit. Entlang des Mäuerchens, das es begrenzt, stehen Autos und dicht dabei jene märchenhaften Wesen ohne Wurzeln, ohne Sinn und voller zweifelhafter und beunruhigender Bedeutung, voller mächtiger Anziehung für eine Erfahrung, die wie die meine sich ganz auf sich selbst verlassen will – die ersten Inder. 

Sie sind allesamt Bettler oder gehören zu den Leuten, die im Dunstkreis eines großen Hotels leben und mit seinem mechanischen und geheimen Leben erfahren sind. Sie tragen einen weißen Fetzen um die Hüften, einen anderen über den Schultern, dieser und jener hat auch einen Fetzen um den Kopf. Sie sind fast alle von dunkler Hautfarbe, wie Neger, einige von ihnen sind ganz schwarz. 

Sardar und Sundar schauen auf sie mit dem gleichen Lächeln, mit dem sie ihren Kameraden zuschauten, die den übriggebliebenen pudding verschlangen; auch sie werden bald genau so schlafen. Sie begleiten mich zum »Taj Mahal«. Dort ist das »Tor nach Indien «, vor dem Meer. Der Gesang ist verstummt. Die beiden jungen, die gesungen haben, schlafen in ihren Fetzen auf dem blanken Pflaster. Schon weiß ich ein wenig von dem, was ich wissen wollte, über ihren Gesang. Ein schreckliches Elend. Sardar und Sundar verabschieden sich sehr liebenswürdig von mir, mit ihrem so sonnenhaften weißen Lächeln auf dem Grunde ihrer schwarzen Gesichter. Sie erwarten nicht, dass ich ihnen Rupien geben würde; deshalb nehmen sie sie voll freudiger Überraschung in Empfang. Sandar ergreift meine Hand, küsst sie und sagt: »You are a good sir.« Ich verlasse sie, gerührt wie ein Schwachsinniger.

Andreas Altmann:

Die Reise beginnt in Bombay (heute Mumbai), vor einem der feinsten Hotels der Welt, dem Taj Mahal. Der damals 39-jährige Pasolini – noch weg vom späteren Weltruhm – ist mit seinem fünfzehn Jahre älteren Freund Alberto Moravia – unterwegs: eine Art Schriftsteller-Genie, das mit 20 (!) seinen ersten internationalen Erfolg schrieb und bis zu seinem Tod als Anwärter auf den Nobelpreis galt. Mitte des letzten Jahrhunderts war das Grandhotel noch eine Brutstätte der Verführung, des mondänen Snobismus. Auch gab es noch keinen viereckigen Anbau, dessen Fenster aussehen wie die Oberlichter einer Bahnhofstoilette. Auch drängten keine Prolos in Muskelshirts und Trainingshosen auf den edlen Sofas in der Empfangshalle. Auch waren noch keine Terroristen gekommen (Dezember 2008), um knapp drei Dutzend »Ungläubige« mit ihren nagelneuen Kalaschnikows umzumähen. Das Taj Mahal war noch »unmodern«, noch verwunschen schön.

Pasolini erledigt sogleich das, was er stets auf dieser Reise erledigen wird: Er checkt ein und verlässt umgehend wieder das Hotel. Sogar nachts. Er will das tun, was jeder begabte Reisende tut, tun muss: sehen, hören, riechen, fühlen. Er will wissen, will versuchen zu begreifen. »Ich kann«, notiert er, »die dürstende Bestie in mir nicht zähmen«. Das liest man als Leser gern, weil man somit sicher sein kann, dass kein beschaulicher Trödler unterwegs ist, sondern einer, den nach Entdecken und Finden hungert und dürstet. Die talentiertesten Autoren übertragen diese
Sehnsucht auf jene, die sie lesen. Wie unser Mann in Bombay.

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Am Ende seines nächtlichen Ausflugs erinnert sich Pasolini an eine winzige Szene, die zeigt, wie subtil er die eigenen Regungen interpretiert. Bevor er ins Taj Mahal zurückkehrt, macht er die Bekanntschaft zweier Jugendlicher, die in Abfalltonnen nach den Essenresten der Gäste wühlen. Beim Abschied gibt er ihnen etwas Geld. Einer küsst ihm die Hand und sagt: »You are a good sir.« Und Pasolini kommentiert: »Ich verlasse sie, gerührt wie ein Schwachsinniger.« Wie wahr, sein Gerührtsein ist schwachsinnig. Die paar schmutzigen Scheine, die er ihnen hinhält, sollten ihn nicht veranlassen, sich »gut« zu fühlen. Ein Almosen, schön billig. Aber der kurze Augenblick demonstriert das endlose Dilemma des fremden Reisenden: Gewährt er jedem Bettler mehr als eine (bescheidene) Spende, kann er am übernächsten Morgen die Koffer packen und per Autostopp nach Europa zurücktrampen. Und drückt er nur kärglich ab, dann hat er seine Gewissensbisse am Hals. In Indien muss einer stark sein, denn jeder Tag franst am Nervenkostüm. Wohl der Eintrittspreis für das Wunder.

Pier Paolo Pasolini:

In New Delhi ging ich mit Moravia zu einem Empfang in der kubanischen Botschaft, anlässlich des zweiten Jahrestages der kubanischen Revolution. Vor einer Villa in Delhi, einer riesigen Gartenstadt, wohl genau wie Washington, war ein großer rot-blauer Pavillon aufgestellt worden, mit roten Teppichen auf dem Boden. Dort drängten sich sämtliche diplomatischen Corps der Hauptstadt, vom jugoslawischen bis zum belgischen Botschafter, vom kubanischen bis zum russischen Kulturattaché, alle mit ihrem Whiskyglas in der Hand, wie auf einer Reproduktion aufgereiht. Freundliches Geplauder lag in der ein wenig kalten Frühlingsluft. Mitten unter diesen eleganten Diplomatengestalten und ihren Damen, erschienen mir (es war erst zehn Tage her, dass ich aus Italien fort war, wenn es mir auch wie zehn Jahre vorkam) zwei katholische Prälaten wie eine absurde Vision, sie waren dünn wie Säbelklingen, rotumgürtet und trugen das rote Käppchen am Hinterkopf. Wohl Spanier, die aussahen wie zwei Fechter. Mir erschienen sie wie Embleme, brennende Embleme einer ganzen Welt. Doch für wieviele Millionen Menschen in der indischen Welt waren sie nichts weiter als ein auffallender Schnörkel aus Rot und Schwarz? Sendboten eines Potentaten, der so fern war, dass er unwirklich erschien?

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Nicht immer habe ich in den indischen Riten diese demütige und menschliche Friedfertigkeit gesehen. Im Gegenteil. Oft sind abstoßende Dinge zu sehen. Der Besuch in vielen herrlichen Tempeln, im Süden, von Madras bis Tanjore, Stationen einer wundervollen Reise, ist überdeckt vom quälenden Anblick der Menschenmenge rund um die Tempel und ihrer schmutzigen Frömmigkeit. Eine schreckliche Vision in Kalkutta. Den Tempel der Kali nicht zu besichtigen, wäre unmöglich gewesen, er ist eine der wenigen Sehenswürdigkeiten in diesem finsteren und hoffnungslosen Ort, der einer der größten menschlichen Agglomerate der Welt ist. Wir trafen dort ein und wurden, kaum aus dem Taxi ausgestiegen, wie von einem Fliegenschwarm von Leprakranken, Blinden, Verwachsenen, Bettlern bedrängt. Wir gingen in den Hof des mittleren Tempels hinein (den wir nicht sehen konnten, weil die fürchterliche Menge uns zu sehr einzwängte; im übrigen handelt es sich um einen modernen, stilistisch uninteressanten Bau) und dort drinnen in dem kleinen Hof sahen wir, in einem Strudel aus Lumpen und jämmerlichen nackten Armen und Beinen, jemanden, der ein Zicklein zu einer, Art Schafott schleppte, einer Astgabel, die auf dem gepflasterten Boden befestigt war. Eine gebogene Klinge wurde hinaufgezogen, der Kopf des Zickleins rollte zu Boden und das Kreisrund seines Halses füllte sich mit brodelndem Blutschaum. 

Andreas Altmann:

Pasolini ist kein Intellektueller, der vor einer Reise monatelang Schwarten wälzt und alte Dokumente dechiffriert. Er ist Künstler, einer, der intuitiv auf ein Land zugeht, es sinnlich registriert, sinnlich einatmet. Was natürlich uns Leser auf innigere Weise bereichert als die Zeilen von einem, der nur mit dem Hirn unterwegs ist, von einem eben, der kein Herz mitbringt, keine Freudenschreie und Wundmale. Wie erfreulich, dass unseren Mann aus Rom bald die Erfahrung eines jeden intelligenten Reisenden einholt, eine, die ihm hilft, noch radikaler, noch näher an Indien heranzukommen. Er vermerkt: »Nur wenn ich allein bin, stumm und zu Fuß gehe, gelingt es mir, die Dinge kennenzulernen.« Er liebt Moravia, seinen (heterosexuellen) Begleiter, aber er muss für sich losziehen, isoliert: um sich auf die Fremde und die Bilder konzentrieren zu können, die ihn überfluten. Er will nicht Italienisch reden, sondern sein »kümmerliches Englisch« üben, auch nicht über früher und ferne Freunde räsonieren, er will sich ausschließlich in der Gegenwart aufhalten. Um die Ursünde des gemeinsamen Reisens vermeiden: das Uralte wiederzukäuen. Statt sich auf das Brandneue einzulassen.

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Ich will an dieser Stelle eine kleine Begebenheit erzählen, die zeigen soll, dass auch ich einmal in Indien gut war. Wenn auch mein Eingreifen viel weniger Zeit beanspruchte. Der Vorfall, ähnlich fingerhut-vergeblich, spielte in Rishikeshi. Die Stadt liegt im Norden, am Ganges, und ist »holy«, nein, superheilig: Auf der untersten Stufe einer Steintreppe, die direkt zum Fluss führt, lag ein Mensch, leise wimmernd. Ich kam näher und sah seinen röchelnden Mund, die vereiterten Augen, die Lepra-verstümmelten Zehen, die löchrige Haut. Ich flößte dem armen Teufel etwas Tee ein, schob winzige Portionen von Blätterteig nach und besprühte seinen glühenden Körper mit Wasser. Der Mann drehte langsam den Kopf nach rechts. Dort standen Bäume. Ich trug ihn hinüber in den Schatten. Zehn Meter weiter hechteten kleine Nackte glückselig in den Ganges, in die Duhkha Hantri, die »Kummer Vernichtende«. Ambulante Händler verkauften Erdnüsse, Mangos und Plastikeimer für den sicheren Heimtransport des »holy water«. Masseure riefen nach nach Kundschaft, eine Kuh sonnenbadete. Und der Alte lag im Sterben.

Pier Paolo Pasolini:

Andere Intellektuelle lernte ich näher kennen. Bei einem kalten Abendbuffet des italienischen Botschafters in Delhi, Giusti del Giardino, traf ich außer anderen Botschaftern und eleganten Damen einige typische Intellektuelle Indiens: Mulaokar, den Chefredakteur der Hindustan Times, Prem Mhatia, den Chef der Times of India, Asoka Mehta, den Führer der sozialistischen Partei Praja, der, offengesagt, auf meine eindringlichen Fragen nur sehr ungenau und zerstreut reagierte, Durga Das, den politischen Journalisten, der sich hingegen (aber vielleicht war es aus Höflichkeit) von meinen unhöflichen Bemerkungen über die indischen Zeitungen ziemlich beeindruckt zeigte, und schließlich zwei Schriftsteller, den berühmten Panikkar*, Verfasser eines Buches über die Beziehungen zwischen dem Orient und Europa, das auch in Italien erschienen ist, sowie den kleinen Chandury**, einen humoristischen Schriftsteller (Verfasser eines Buches mit dem ironischen Titel A Passage to England). Er wirkt wie ein wohlvertrauter Stationsvorsteher aus Venetien, der impressionistische Bildchen sammelt und ziemlich vergeblich versucht, mittels paradoxer Sätze und mittels eines harmlosen Anarchismus aus dem Konformismus auszubrechen. Der einzige Intellektuelle von erkennbarer Vitalität, den ich in Indien kennengelernt habe, ist ein junger, dreiundzwanzigjähriger Mann, Dom Moraes***, dessen Vater Chef einer großen Zeitung und ein ebenfalls sehr schätzenswerter Mann ist, jedoch sehr niedergeschlagen von der indischen Tragödie, die er voll erfaßt. Der Sohn hingegen, jung und soeben aus Cambridge zurückgekehrt, ist eine Mischung aus Existenzialismus und beat generation und ist vielleicht auch ein wenig unsympathisch. Es ist aber in ihm eine Unruhe und Ungeduld in der Art und Weise zu spüren, wie er sich mit seinem Land auseinandersetzt, die ihn scharf von den Intellektuellen der vorhergehenden Generation abhebt.

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Die Gewohnheit, alles in Klassen und Hierarchien einzuordnen (die schließlich bei den Intellektuellen nicht nur auf eine rationelle Schwäche hindeutet, sondern auch auf die typische Sanftheit und Bescheidenheit der Inder), rührt von jenem fürchterlichen geistigen Archetyp her, der jeden Akt des Denkens und Handelns der Inder prägt – dem Kastenprinzip. Bei den Intellektuellen ist hiervon die Mechanik eben dieses Klassifizierens und Hierarchisierens zurückgeblieben. Diese Mechanik fixiert die Dinge und die Ideen in einer Art leblosen Bildes, das sich nicht ohne Ängste und Qualen weiterentwickelt. Die gleichen Ängste und Qualen zeichnen sich auf den Gesichtern der Kellner ab, wenn man etwas von ihnen verlangt, was nicht auf der Speisekarte steht oder zu den Gewohnheiten gehört. 

Andreas Altmann: 

Pasolinis Reise endet fulminant, wie eine Epiphanie kommt Indien zuletzt über die beiden. Am Ende der Via Dolorosa erreichen sie den Fluss und besteigen einen leichten Kahn, ziehen entlang der »Skyline« von Varanasi. Es ist bereits Abend und unter dem mondblauen Himmel glitzern die Lichter in den Tempeln und Palästen der Maharadschas. Ich kenne die Szenerie, die sich nun vor ihnen auftut, und ich weiß, dass ich sie selbst nur ausgehalten habe, weil ich auf alles gefasst war. Und weil ich, wie jetzt die Fremden aus Rom, in einem leise gleitenden Boot saß, nichts
mehr vernahm, nur das Geräusch des Fährmanns am Heck, der elegant und lautlos sein Ruder ins Wasser tauchte. Es gibt jene Stunden von vollkommener, ja unerträglicher Schönheit, die wie eine Wunde spüren lassen, was das Leben sein könnte. Und was es sein sollte. So eine Stunde muss es gewesen sein. Die ihre, die meine, die jedes Beschenkten, den das Glück hierher verschlug. Irgendwann sehen die beiden die berühmten Feuer und steuern darauf zu. Steigen an Land und nähern sich einer der Verbrennungsstätten. Betreten wieder das unsagbare Indien. Eine Tote lodert auf einem Scheiterhaufen und still stehen Angehörige und Freunde daneben. Mit der Geduld derjenigen, die hoffen, dass diese Frau, deren Leib nun schmort und knallt, sie nicht verlassen, sondern – auf verschlungen indischen Wegen – wiederkommen wird. Zurück zu den Lebenden. Und Pasolini, hautnah den Funken und der Hitze, schreibt seine sorglosesten Zeilen, die drei letzten im Buch: »Nie, nirgends und zu keiner Stunde, in keinem Akt unseres ganzen Aufenthalts haben wir ein so tiefes Gefühl der Gemeinsamkeit, der Ruhe und, beinahe, der Freude empfunden.«

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Kleines Nachwort: Vor Tagen las ich im Wirtschaftsteil einer angesehenen Tageszeitung das Interview mit einem Mega-Auto-Boss. Sein Traum (ja, sein Traum!) sei es, in Indien und China mehr Autos als alle anderen Megabosse zu verkaufen. Eben Autoverkaufsweltmeister zu werden. Denn dort – na klar, bei 2,5 Milliarden Einwohnern – lägen die »Märkte der Zukunft«. Gehört so einer nicht hinter Schloss und Riegel? Als Weltvernichter? Weltersticker? Weltverstopfer? Ja, Einzelhaft tausend mal tausend Jahre lang, wenn man bedenkt, wie bestialisch schon heute die Flut der unheiligen Blechkühe diese Weltgegend verstinkt, wie tsunamigeil sie Landschaften auffrisst und unter sich begräbt. Ach, Pier Paolo Pasolini, wie gut, dass es einen wie dich gab. Einen Schlenderer, einen Flaneur, einen Bewunderer, einen, der nie auf die Idee gekommen wäre, Indien mit einer Verkaufsbude zu verwechseln. Einen doch, der ununterbrochen nichts anderes suchte als das Geheimnis, das Rätsel, die eine Million Wunder. Und der sie anstarrte und ausleuchtete wie ein schönheitsdurstiges Tier.

Pier Paolo Pasolini: 

Mit Hilfe des Taxichauffeurs, der zuerst mit dem Schiffer etwas geredet hatte, steigen wir in ein schwankendes Boot, das sich langsam von der Treppe, von den düsteren Umrissen anderer Boote, anderer menschlicher Wesen löst.

Während sich das Boot allmählich entfernt, erkennen wir das Ufer in seinem ganzen Ausmaß. Oben, unten, überall glänzen Lichter und, im Gegenlicht, erhebt sich eine Art Stadt der Unterwelt, aber in bescheidenem, fast ländlichem Zuschnitt. Es sind die Mauern der Paläste, welche sich die Maharadschas und die Reichen hier errichten ließen, um am Ufer des Ganges zu sterben: Tempel, aber auch Hütten und Schutzmauern, alles zusammengehäuft und in einem unbeschreiblichen Gewirr ans Ufer gepreßt. Weit hinten leuchten Feuer auf einer Anlegestelle, die der ähnlich ist, die wir gerade verlassen haben, auf die wir nun zuhalten, indem wir am dunklen, steilen, von Schiffen vollbesetzten Ufer entlangfahren.

Wir gelangen auf die Höhe der Feuer. Dies sind die drei Verbrennungsstätten der Toten. Zwei davon liegen hoch wie auf einer Rampe, eine unten, wenige Meter über dem Wasserspiegel. 

Wir steigen aus dem schaukelnden Boot und steigen, zwischen den Kielen anderer Boote, zwischen Staub und Schutt hinauf, einer Mauer entlang, die von einem Erdbeben übriggeblieben scheint. Wir kommen über eine finstere Treppe auf einen freien Platz oberhalb der Mauer, wo die bei den Scheiterhaufen brennen.

Rings um die Scheiterhaufen sehen wir viele Inder in ihren üblichen Lumpen kauern. Niemand weint, niemand ist traurig, niemand schürt das Feuer an. Alle scheinen nur darauf zu warten, dass der Scheiterhaufen abbrennt, ohne Ungeduld, ohne das geringste Schmerzgefühl oder Kummer oder Neugier. Wir gehen zwischen ihnen herum und sie, die immer so ruhig, freundlich und gleichgültig sind, lassen uns bis zum Scheiterhaufen durch. Man kann außer dem wohlangeordneten und gebündelten Holz, in dessen Mitte der Tote liegt, nichts erkennen. Aber alles brennt und man kann nicht unterscheiden, welches die Glieder und welches die dünnen Holzstämme sind. Es gibt auch keinen Geruch außer dem feinen Geruch des Feuers. 

Da die Luft kalt ist, treten Moravia und ich instinktiv näher ans Feuer, und indem wir nähertreten, empfinden wir bald ein angenehmes Gefühl, ähnlich wie das, wenn man im Winter mit froststarren Gliedern an ein Feuer tritt und es zusammen mit zufälligen Freunden genießt, auf deren Gesichtern, auf deren Lumpen die Flammen friedlich die Farben ihres mühsamen Todeswerkes malen. 

So spähen wir, getröstet von der Wärme, genauer aus nach den armen Verstorbenen, die da verbrennen, ohne irgendjemanden zu belästigen. Nie, nirgends und zu keiner Stunde, in keinem Akt unseres ganzen indischen Aufenthaltes haben wir ein so tiefes Gefühl der Gemeinsamkeit, der Ruhe und, beinahe Freude empfunden.


Veröffentlichung 2014

Indien von Pier Paolo Pasolini und Andreas Altmann

Corso

Kurzbeschreibung

Der vierte Band unserer Pasolini-Edition führt Sie nach Indien. 1960 bereiste Pasolini gemeinsam mit Alberto Moravia und Elsa Morante über viele Wochen den Subkontinent, bestaunte das Land, seine Menschen, die irritierenden Riten, Religionnen und Kulturen. Andreas Altmann – einer der bekanntesten deutschen Reiseschriftsteller, Pasolini- und Indienkenner, ausgezeichnet unter anderem mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis und dem Seume-Literaturpreis – ist, exklusiv für dieses Buch fünfzig Jahre später auf den Spuren Pasolinis im heutigen Indien. Altmann erzählt, was sich seit Pasolinis Reise verändert hat, was verschwunden ist, was Pasolini anders gesehen hat, was ihm wunderbar gelungen ist. Vor allem aber, was Indien ihm so verschwenderisch an Wundern und Zaubereien geschenkt hat

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