Leseprobe

VORWORT

Das wird kein Reisebuch. Es wäre überflüssig. Jede Hausmauer in Mexiko wurde bereits beschrieben, Millionen Fotos zirkulieren im Netz, Hunderttausende Webseiten gibt es. Auf Youtube kann man den Rest seiner Lebenszeit mit dem Betrachten einschlägiger Beiträge verbringen. 

Was tun? Das Einzige, was so ein Unternehmen – noch ein Buch – rechtfertigt: Der Reporter wirft einen sehr eigenmächtigen, auch provozierenden Blick auf alles, was ihm über den Weg läuft. Auf Frauen, auf Männer, auf alles, was an ihm vorbeizieht, was ihn entflammt und mitreißt, was ihn heulen lässt und bitter sein, alles, was seine Begabung zur Menschenliebe und Freundschaft weckt, was seine Wut und Verachtung provoziert, alles eben, was (weltwachen) Menschen gemeinsam ist: die Neugier auf das Leben anderer.

Je radikaler der Schreiber sich ausliefert, je verwundbarer er sich herzeigt, desto inniger verführt er den Leser zur Teilnahme. Der Schreiber als Katalysator, um Nähe herzustellen. Nähe zum Fremden, an dem so vieles uns fern ist. Und vieles so nah.

Ich – jetzt bin ich selbst Leser – will von einem Buch entführt, ja, gebeutelt werden. Ich bin nicht zimperlich. Solange ich hinterher eine Spur weniger ignorant bin, will ich nicht klagen. Der Autor darf ruhig schwitzen und in Not geraten. Das muss er, sonst ist er mein Geld und meine Lebenszeit nicht wert.

Ich will erklären, wie ich mir – nun als travelwriter – das Schreiben im 21. Jahrhundert vorstelle: dass in der Nähe von Kairo Pyramiden herumstehen, wissen sogar die, die von der Welt nichts wissen wollen, sprich, viele. Also muss man mit einer Geschichte zurückkommen, die überrascht. Nicht der uralte Senf der uralten Pharaonen, nein, irgendein Dreh muss in der Story auftauchen, von dem vorher niemand wusste, okay, einige nur wussten. Ja, es würde reichen, wenn der Verfasser das, was er gesehen und gehört hat, auf unerwartete, besser, auf verblüffende Weise interpretiert. Wenn er, jetzt kommt es, etwas Erstaunliches anbietet. Keinen Scoop, keine atemberaubende breaking news, einfach etwas, das mich – nun wieder Leser – mit Dankbarkeit erfüllt, und ich, durchaus begeistert, ausrufe: So kann man es auch sehen!

Erstes Beispiel, heiter: Marilyn Monroe, ach, hunderttausend oder hundert Millionen Mal haben wir schon gelesen, dass sie eine süße Piepsstimme hatte, dass sie busig und unvorstellbar fotogen war, dass sie nie ihren Text konnte und Tony Curtis ihr bei den gemeinsamen Dreharbeiten zu „Some like it hot“ gedroht hatte, in den Irrsinn zu gehen. Ach, wär’s da nicht herrlich gewesen, wenn ich – ich meine ja nur – von ihr erhört worden wäre und jetzt etwas, gewiss Herrliches, zu erzählen hätte? 

So ähnlich, denke ich, müssen Bücher über die Welt sich anhören. Surprise me, scribbler! Dann werde ich dich anlächeln und dir Treue schwören.

Zweites Beispiel, wenig heiter: Im „Neuen Testament“ – Lukas 7,36-50 – steht, dass Herr Jesus einer „Sünderin“ ihre „sexuellen Sünden“ vergab. So wurde es uns in der Volksschule eingetrichtert: Der heilige Jesus erbarmt sich der unheiligen Prostituierten. Ach ja, nachdem sie ihm „die Füße geküsst und gesalbt“ hatte. Kniend, versteht sich. Bis ich, inzwischen erwachsen, die Interpretation dieser Stelle von einer amerikanischen Frauenrechtlerin las, die viel einleuchtender klang: Die Anmaßung von Männern, die sich einmal mehr als Moralapostel aufspielen und dem Weib – natürlich verkommen und natürlich eine Nutte – „vergeben“. Kein Wort über ihre gewiss rüde Kundschaft, kein Wörtchen über ihre Zuhälter, keine Silbe über die Scheinheiligkeit der damaligen Gesellschaft, die käufliche Frauen gegen ein Almosen vögelte und sie hinterher ächtete. Das ist es: Plötzlich sah ich die Szene unter einem Aspekt, der zum Andersdenken führte.

Ein letzter Zwischenruf: „In Mexiko“ wird wieder ein Bericht über die so genannte Dritte Welt. Ich will mich bemühen, nicht nur black storys abzuliefern. Vor Jahren hat Elke Heidenreich (wohlwollend) ein Buch von mir besprochen. Eines über Afrika. Zuletzt erwähnte sie, dass sie sich schon lange nicht mehr in die dunklen Ecken unserer Erde wagt. So mitgenommen sei sie von dem, was sie einst sah. Ich bin noch nicht so weit. Aber nah dran. So will ich nichts Schönes übersehen. Und nichts Vergnügliches. Um meine Wundstellen damit abzutupfen. Und die der Leser.

Aber gewiss, Mexiko verfügt über einen bestechenden Trumpf: Wer hier entlangreist, wird gleichzeitig an einem Crashkurs zum Thema „Wer bin ich?“ teilnehmen. Links und rechts warten Erfahrungen, die jeden überhäufen. Mit dem, was wir alle ersehnen: vehemente Gefühle und Erkenntnisse, die ganz hellblauen, die ganz dunkelschwarzen. Jeder, wenn er sich nur traut, wird beim Wahrnehmen der Fremde etwas über sich begreifen, selbst das Wunderlichste, das Verborgenste in ihm. Reisen ist auch eine Reise nach innen. Der Schatz Mexiko gehört jedem, der noch immer hungert. Mehr kann ein Land der Welt nicht schenken.

> Buch bestellen