Mai 2019

Interview mit Andreas Altmann
Die Fragen stellte Joachim Leitner

1/ Wo erreiche ich Sie gerade? (sollte es das heimatliche Paris sein, wäre es schön, wenn sie kurz umreißen, wo sie zuletzt unterwegs waren

AA: Vor ein paar Tagen kam ich aus Baku, der Hauptstadt Aserbeidschans, zurück. Um dort – vormittags – im Hotel an dem Buch zu schreiben, das im Oktober herauskommt, und um – nachmittags – zu flanieren: andere anschauen und bestaunen. Das Leben Fremder: Es gibt wohl nichts, was neugieriger macht.

2/ Wie viel Vorbereitung steckt in einer Ihrer Reisen? (Recherche…)

AA: Ach, jetzt müsste ich schwer ausholen, schwer angeben und verkünden, dass ich mich monatelang in Bibliotheken wälze und nachts durch den Cyberspace rausche, um jeden Zipfel Information über den Ort, das Land, das Ereignis zu finden, für die ich unterwegs sein werde. Mitnichten. Aus zwei Gründen: Ich habe keine Lust, über Zustände zu schreiben, die woanders bereits veröffentlicht wurden. Welchen Sinn ergäbe das? Und zweitens: Ich bin ja Reporter, soll sagen, ich interessiere mich jeden Tag für die Welt, höre und lese per Medien, was wo passiert. Schon klar: Wenn ich das Thema kenne und wenn der Vertrag unterschrieben ist, dann achte ich auf einschlägige Artikel und Berichte. Vielleicht reden sie von Leuten, die ich kontaktieren will. Vielleicht erfahre ich etwas, was mich dorthin führt, von dem ich bisher nichts wusste.

3/ Die Welt, heißt es landläufig, ist kleiner geworden, weiße Flecken auf der Landkarte sind selten, (Billig-)Flieger bringen Touristen auch in abgelegenere Gegenden. Hat dieser Umstand ihre Arbeit verändert?

AA: Natürlich. Die großen Entdeckungen, die sind vorbei. Würde ich auf der Venus landen, dann käme ich mit Sensationen zurück. Solange das nicht passiert, kommt von mir nichts Neues. Aber ich kann immerhin versuchen, einem originellen, einen provozierenden, einen verblüffenden Blick auf die Umstände werfen, die mir begegnen. Nehmen wir als Beispiel den Fotografen Henri Cartier-Bresson, den französischen Wunderknaben. Der Mann sollte „Wallstreet“ fotografieren. Und was bringt er in seiner Leica mit nachhause?: Einen Bettler, der am Eck des imposanten Gebäudes in New York sitzt. Bettelnd.

Hinreißend. Ganz ohne Spezialeffekte, ganz ohne Gedöns, ganz ohne Superlativ, nur knallhart in schwarz-weiß. Und nichts ist neu: nicht der Bettler, nicht das Gebäude, nichts. Nur der Kontext ist vollkommen anders, der Zusammenhang: Der Betrachter erkennt, dass die glitzernde Gier des Raubtier-Kapitalismus Folgen hat. Wie Einsamkeit, wie Armut.

Was sich nie verändert, verändern soll: dass der Schreiber den Lesern auch Freude mit seiner Sprache macht. Dass er den Inhalt sinnlich – die Sinne reizend – verpackt.

4/ Ihr jüngstes Buch über Mexiko beiginnen Sie mit der Feststellung, dass es kein weiteres Reisebuch werden solle/würde. Hat sich ihr Ansatz mit den Jahren verändert? Verändern Erfahrungen, die man gemacht hat, den Blick auf die Welt? Wird das Schreiben reflektierter?

AA: Gewiss. Die Unschuld, wenn sie je da war, ist dahin. Ich bin ein gutgelaunter Pessimist, aber dass wir die Welt zuschanden fahren, daran herrscht kein Zweifel, Ich darf bei dem Thema ein bisschen mitreden, denn ich habe auf vier Kontinenten gelebt und in Echtzeit zuschauen dürfen, wie ein irdisches Paradies nach dem anderen plattgewalzt wurde. Wie sang es Joni Mitchell: „They paved paradise / Put up a parking lot …” Man wird als Schreiber wie der Herr Karl von Qualtinger immer grantiger, immer zipfiger, eingedenk dessen, dass wir die Erde in Stücke hauen. Die Berichte werden dunkler, verstörender. Noch verstörender, weil man selbst daran beteiligt ist. Reporter fliegen viel über den Wolken.

5/ Wenn man sich die Teilnehmerliste der Wochenendgespräche anschaut, sind Reiseschriftsteller in der Überzahl. Ist Reiseliteratur vornehmlich Männersache? Oder sitze ich einer Klischeevorstellung auf?

AA: Ich habe keine Ahnung, warum das so ist. Ich glaube weder, dass Männer die besseren Reiseschriftsteller, noch dass Frauen die besseren Menschen sind. Ich mache mir die unsägliche Mühe, jeden Fall für sich zu checken. Es gab grandiose, waghalsige Damen, die sich in Gebiete trauten, in die neunzig Prozent aller Männer nie einen Fuß setzen würden, und wenn doch, dann mit vollen Hosen. Zudem, wir wissen es alle: Die eine Hälfte der Weltbevölkerung verfolgt ein Problem – was beim Reisen, fern der Heimat, noch verschärft wird –, von dem wir anderen 50 Prozent verschont bleiben.

Lieber Joachim, diese Frage – „Wie würden sie das Verhältnis von Unterwegssein und Schreiben bezeichnen“ – bitte weglassen. Wir beide wissen nicht so genau, wie sie gemeint ist. Ich würde gern folgende Frage, wenn Sie erlauben, beantworten, denn ich weiß von Fragen, die mir per Mail oder auf Lesungen gestellt werden, dass eine Antwort durchaus interessieren könnte: 

6/ Was würden Sie einem Anfänger raten, der Reporter, Reiseschriftsteller werden will?

AA: Ich mag diese Frage und die Antwort ist so simpel: hat ein Traveller gelernt, sich auf den gegenwärtigen Moment zu konzentrieren, ist er zudem fest entschlossen, den Schafsnasen auszuweichen, die vor jedem Ziel Tripadvisor oder einschlägige Blogs studieren, um dort zu landen, wo der große Haufen schon angekommen ist, hält er es außerdem aus, nicht jede halbe Stunde per Whatsapp Mutti und Papi und seinen daheim hockenden friendseine Nachricht zu schicken, die sie unter anderem darüber aufklärt, dass er gerade eine Hühnersuppe löffelt, wenn dieser Mensch also – jetzt wird es anstrengend – mit Alleinsein, mit Zweifel und Ungewissheit umgehen kann, sprich, er uns verschont mit Phrasen wie „alle sind lieb und freundlich in fernen Ländern“ und wenn so ein Reisender – zum fulminanten Abschluss – über das unüberhörbare Talent verfügt, seine Erlebnisse in der Welt und seine Ansichten über die Welt in bewegende Sprache zu übersetzen, dann, ja, dann sind Vagabundieren und davon erzählen die rechte Beschäftigung für ihn. Dann, ja dann, wollen wir uns hinsetzen und ihm (oder ihr) lauschen.

7/ Was trieb Sie hinaus in die Welt? Ist Reisen und darüber Schreiben ein Job – oder ein Abenteuer?

AA: Die Antwort liegt mir sofort auf der Zunge: Ich kann nichts anderes, ich habe ja hartnäckig bewiesen, dass ich bei allen anderen Versuchen, mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen, auf dem Bauch gelandet bin. Wobei mir bis heute keine Ausreden einfielen, um diese Abstürze zu rechtfertigen. Andere sind mit mehreren Talenten gesegnet, ich habe es – böse Menschen würden dem sicher widersprechen –  immerhin zu einer Begabung gebracht.

8/ Sie bereisen bisweilen – wie es im Palästina-Buch heißt – „verfluchte Länder“. Gibt es eine Weltgegend, die Sie besonders beeindruckt hat.

AA: Ganz undenkbar eine Antwort. Ich bin in allen vier Himmelsrichtungen Frauen und Männern und Landschaften begegnet, die mich im Innersten anrührten. Ich wüsste von keinem ranking, keiner Hitparade. Ich umarme jede und jede, der mir von seiner Welt erzählt. Ob mich das erheitert oder in eine mittelschwere Depression reißt, egal, hinterher bin ich reicher, geistreicher.

9/ Entstehen Ihre Texte vor Ort, oder werden die Eindrücke erst am Schreibtisch komponiert? Gibt es Dinge, die Sie für Ihre Bücher aussparen (im Sinne der Verantwortung des Chronisten)

AA: Ich habe stets, wie wohl jeder in diesem Beruf, einen winzigen Notizblock dabei, in den ich diskret hineinkritzle. Abends wird alles als digitales Tagebuch in den Mac übertragen. Und „richtig“ geschrieben – alle Mühseligkeit inbegriffen – wird erst zu Hause. In Totenstille, im Halbdunklen. Aber ja, über manche „Sachen“ wird geschwiegen. Da zu komplex, da von der falschen Seite Applaus droht, da ich Leute in Gefahr bringen könnte. Wer nach „Objektivität“ ruft, dem ist nicht zu helfen.