Leseprobe, eins:

Äthiopien. Immer will ich schreiben gegen die Schwerkraft des Herzens. Will nachweisen, dass die Welt einen Sinn hat und das Menschenleben irgendwo ein Ziel. Will zeigen, dass irgendwann alles gut ausgeht und jeder so lebt, wie er sich das einmal vorgestellt hat. Aber ich bauchlande, stündlich. Mein Plädoyer klingt matt. Statt souveräner Rede stottere ich. Jeder Leimsieder weiss es besser, redet eleganter vom Unglück und der Ausweglosigkeit unseres Daseins.

Wie ich dann schrumpfe. Wie recht er hat. Jeder Blick auf die kaputte Erde beflügelt ihn, jede Nahaufnahme beschädigten Lebens gibt ihm tausend Mal recht. Der portugiesische Dichter Fernando Pessoa spricht davon, dass wir zwei Leben haben: „Eines, das wir träumen. Und ein anderes, das uns ins Grab bringt.“ Der Leimsieder erzählt immer die Geschichten, die uns totmachen. Wäre er in Äthiopien gewesen, düstertriumphierend würde er berichten vom Ende der Welt. Wenn er auch ein paar Dinge übersehen hat. Dinge, die hartnäckig in Widersprüche verwickeln. Weil Landschaften und Männer und Frauen vorkommen, die mitreissen und verführen. Eben wieder zum Träumen und der – kurzfristig – unwiderruflichen Gewissheit, dass das Leben schön ist und ein endgültiges Urteil noch aussteht.

Leseprobe, zwei:

Auf dem Kongo. Der Nachmittag bringt einen einsamen Höhepunkt. Alles, was Menschen sich antun können, an Wärme und Kälte, an Worten und Taten, ist auf den grossen Flüssen dieses Landes schon passiert. Mord und Totschlag, Treueschwüre und Hochzeitsnächte, Kaiserschnitte und Totgeburten, Grossbrände und Seuchentote, alles schon dagewesen. Aber jetzt, an diesem Freitag um Schlag siebzehn Uhr, bricht ein Johlen und Kreischen aus, ja wahre Veitstänze der Lust über ein Ereignis, das so noch nicht stattgefunden hat. Nicht so öffentlich, nicht so unübersehbar. Wer immer kann, rennt los, turnt am Geländer hoch oder wetzt die Leitern hinauf, um auf das Dach der Mombongo, der vordersten Barke, zu gelangen, wo ihn ein wahrhaft märchenhafter Anblick erwartet: Ein nacktes Paar, verschlungen in schweissgebadeter, hektischer Leidenschaft, wimmernd, stotternd, tatsächlich unerreichbar von jeder Aussenwelt, die fassungslos und hingerissen daneben steht und starrt. Bis das Liebesspiel unter Ovationen endet. Und erst jetzt kommen die beiden wieder zu Bewusstsein, hören das Freudengeheul der anderen, spüren plötzlich eine fürchterliche Scham, bedecken sich, ziehen sich überstürzt zurück.

Für mich hat der fulminante Auftritt ein Nachspiel. Frère Emile, beruflich als Verkünder und Prediger unterwegs, hat mit Sorge die Szene (und mich) beobachtet. Was ihn besonders schmerzte, sei mein offensichtliches Interesse an ihr gewesen. Er müsse mit mir reden. Also reden wir. Bruder Emile ist sanft und gütig. Er weiss um den Stachel der Wollust, hat selbst erfahren von der Schwäche des Fleisches, kennt folglich den Weg hinaus aus Gier und loderndem Verlangen. „Le Seigneur“, sagt er, „unser Herr ist auch über den Kongo geschritten, um uns beizustehen.“ Sollte das Weib (irgendein Weib) tatsächlich nachts an meiner Kabinentür klopfen, so solle ich öffnen und sie hereinbitten. Zum gemeinsamen Gebet. Bruder Emile zitiert zuletzt das neue Testament, Apocalypse, Kapitel 3, Vers 15, 16: „Ach dass du kalt oder warm wärst. Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.“ Standhaft solle ich bleiben, nicht nachgeben, nicht lau werden im Angesicht fleischlicher Verlockung. Dann überreicht er mir einen kleinen Prospekt, Verkaufsanzeige für einen „cours biblique par correspondance“. Am besten heute noch unterschreiben, meint er, so könne ich umgehend mit dem Fernstudium der Bibel beginnen.

Leseprobe, drei:

Windhoek, Namibia. Nur Glück im Kopf. Flug über Namibia, Anflug auf die Hauptstadt Windhoek. Wer hinaus auf die Welt blickt, muss an den Sinn des Lebens glauben. Der gelbe Himmel, das rote Land, die blaue Luft. Ich zählte vor dem Einsteigen hundersiebenundvierzig Moskitostiche und einen wackelnden Zahn. Drei Monate Afrika liegen hinter mir und ich begreife einmal mehr, dass Schönheit heilt. Auch Malaria-Nachwehen und Mundfäule. Da ich christlich erzogen worden war, kam die Strafe für den Augenblick der Leichtigkeit noch in der selben Nacht. Sie kam so:

Im Accomodation Center sitze ich Benny gegenüber. Er ist freundlich und hat trotzdem kein Zimmer. Ich schultere schon den Rucksack, da sagt er glatt: „Ich will helfen, wann immer ich kann.“ Das wäre ein Satz, der bei wachen Zeitgenossen die Alarmanlage losheulen liesse. Nicht bei mir, ich bin dankbar und blöd und folge Benny zu einem Mietshaus, ein paar Ecken weiter. Im zweiten Stock öffnet er eine Wohnung: „Gehört einem Freund von mir, der Typ lebt gerade in Europa.“ Benny überlässt mir den Schlüssel, ich deponiere mein Gepäck, reiche ihm die vereinbarten dreissig Dollar.

Als ich um 22.45 Uhr zurückkehre, ist der schöne Tag zuende. Der Schlüssel passt nicht. Ich manipuliere so vehement am Schloss, dass zwei Nachbartüren aufgehen und man mir nahelegt, „to get the fuck out of here.“

Wo ist Benny, ich will ihn töten.

Ich verschwinde und suche eine Polizeistation. Ich finde drei Mehlsäcke, die mich verschlafen auffordern zu warten. Warten? Im Rucksack befinden sich die Aufzeichnungen der Reise, das wäre ein zukünftiges Buch, mein nächster Lebensunterhalt. Einer der Mehlsäcke sieht mir die Mordlust an und fährt mich zum Büro der Kriminalpolizei. Mit zwei Mann in Zivil – „undercover“, sagen sie cool – zurück zur Wohnung. Was nichts ändert, auch zwei Geheimagenten gehen durch keine Stahltür, wenn der richtige Schlüssel fehlt.

Ab 0.36 Uhr campiere ich auf dem Bürgersteig gegenüber. Als Mahnwache. Da das Zentrum von Windhoek nachts wie ein Friedhof aussieht, ist es friedhofsstill. Um 6.30 Uhr höre ich das erste Lebenszeichen, ein Schulmädchen verlässt das Haus, sie ist die Fee, sie weiss den Namen des Hausbesitzers. Ich renne davon, finde ein Café, telefoniere.

Bald braust der Eigentümer vor, ich erkläre ihm den Fall, er erklärt mir, dass das Schloss gestern Nachmittag ausgetauscht wurde, weil der Mieter seit Monaten keinen Cent mehr überwies. Die Tür geht auf, selig umarme ich mein Gepäck.

Kurz nach neun besuche ich Benny und erzähle ihm die Geschichte von den dreihundert Dollar. Die ich gern von ihm hätte. Als Schmerzensgeld, als Gefahrenzulage, als Wiedergutmachung für eine schlaflose Nacht. Der Junge ist hell, er versteht sofort. Blecht er nicht, werde ich dem Boss und dem Hausbesitzer seinen Namen durchgeben. Benny murmelt noch was von „damned motherfucker“ und holt die Scheine aus der Kasse.

Draussen wartet Windhoek auf mich, wieder die Sonne, wieder die blaue Welt. Zärtlich streiche ich über das Bündel.


Erstveröffentlichung 2002

Unterwegs in Afrika

(Fotos: Michael Martin) | Frederking & Thaler-Verlag

Kurzbeschreibung

Kaum ein Kontinent übt eine solche Faszination auf uns aus wie Afrika – der Traum von Weite, endloser Steppe, Safari, vom regen Treiben auf Basaren. Doch Afrika weckt auch die Vorstellung von Hungersnöten, Krieg und Armut. Der Fotograf Michael Martin und der Reiseschriftsteller Andreas Altmann zeigen in diesem faszinierenden Band Afrika wie es heute ist, ein Kontinent der Gegensätze, lebendig und intensiv.

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