Einleitung:
Dieses Buch ist wie jedes meiner Bücher ein Minority Report, ein Bericht für die Minderheit. Es soll jenen gehören, die Reisen (und Leben) als einen Zustand begreifen, der einmalig ist. Der ihnen Gefühle zumutet, die anstrengen und – wenn gemeistert – reich machen. Reicher allemal, im Kopf, im Herz, tief im Bauch. Die 319 Seiten sind, auch das ist geblieben, ein vehementes Ja-Wort an die Welt, diesmal an die australische Welt. An ihre Wunder, an ihre wunderlichen Schrecken, ihre Schönheit, ja an all die Möglichkeiten, die sie vor uns ausbreitet. Damit wir etwas über den Kontinent und seine Bewohner erfahren, ihre Geschichten. Und über uns. So wie wir sind. Reisen als Offenbarungseid. Auch das.
Nicht geschrieben wurde das Buch für die Tranigen, die Luxusgeschöpfe, die Glotzer, die Virtuellen, die Langschläfer und alle anderen, die sich vorgenommen haben, der Welt und der Wirklichkeit aus dem Weg zu gehen. Sie werden sich hüten, es aufzuschlagen. Jeder Absatz würde sie daran erinnern, wie sterbensfad sie sich inzwischen in ihrem Alltag, ihrer Allnacht eingerichtet haben. Dösend. Nie plagt sie erhöhte Temperatur. Die Lauwarmen sind immer lau.
Was das Buch nicht ist, nimmer: Ein Reiseführer, mit keiner Zeile werde ich jemanden »führen«. Es ist ein Tagebuch, ein Fahrtenschreiber, ein Notizheft, in dem jeden Tag Australien und die Australier auftauchen. Und dazwischen melden sich eigene Gedanken zu Wort, Nebengedanken, Seitenhiebe, Widersprüche, Einsichten, Zweifel, Bewunderung, Wutsplitter, Einsamkeit, Lachanfälle, wieder Bewunderung, wieder Zweifel, wieder Lachen.
Natürlich taugt Im Land der Regenbogenschlange auch als Kriegserklärung an die Grauen Herren, jene umtriebigen Hanswurste, die sich vorgenommen haben, die Welt, die Weltbewohner, ihre Träume und ihr Verlangen nach Freiheit und Sinn zu demontieren. Jene Global Criminals, die uns in verschiedenen Kostümierungen begegnen. Mal als kriegslüsterne Politiker, die im Namen des Friedens morden, morden lassen. Mal als geifernde Hochwürden und Muftis, die uns mit ihren gräulichen Göttern in Atem halten. Mal als Natur abfackelnde Businessmen, die uns ihre höllischen Reden vom Wachstum um die Ohren hauen. Auch ihnen begegnet man in Australien. Wie den weißen Hassern, die sich noch immer der Herrenrasse zugehörig fühlen und bis heute nicht willens sind, den Aborigines – immerhin die ersten Australier – ohne Anmaßung zu begegnen.
Die Reise über diesen riesigen Erdteil ist kein Ausflug für Zartlinge. Selbst als Leser wird man sich Schrammen und Flecken holen. Doch das wäre durchaus im Sinne des Verfassers. Hat er doch sein »Herz ausgeschüttet«, sein Australien. Und dessen Glanzpunkte und Geheimnisse, dessen Gemeinheiten, Wunden und Niederlagen. Und je inniger die Sprache den anderen berührt, desto inniger die Freude. Bei beiden. Dem Leser einen dicken Brief schreiben, ein Buch eben, das scheint bis zum heutigen Tag das probateste Mittel, um uns von der Welt und dem Staunen über sie zu erzählen.
Leseprobe 1:
Südlich von Brisbane beginnt die Gold Coast, etwa 35 Kilometer Strand, das Santa Monica Australiens. Ich bin tollkühn und fahre nach Surfers Paradise, so nennt sich die Stadt tatsächlich, sie gilt als Zentrum der Goldküste. Nun, der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges stellte sich das Paradies als unerschöpfliche Bibliothek vor. Bei Mohammed, dem Propheten des Allgütigen, geistern achtzig ebenfalls unerschöpfliche Jungfrauen durch das Jenseits. Und für zwei Millionen Aussies (pro Jahr) liegt hier der Garten Eden: Er ist verstellt mit Frittenbuden, mit hundert gleichzeitig plärrenden Popsongs, mit Wänden voll flirrender TV-Screens, mit tausend oder fünftausend Sales-Shops, mit Body-Piercing-Shops, mit Beer-Wine-Spirits-Shops, mit Protein-Shops (»built up your muscles«), mit Share-The-Love-Phone-Shops (wo sie Handys mit einem speziellen Programm verkaufen, um jemandem blitzschnell einen Kredit – den sie hier Liebe nennen – zukommen zu lassen).
Surfers Paradise als Vergnügungs-Landschaft mit Heerscharen Halbnackter, von denen man wünscht, man wäre ihnen nie begegnet. Und mit (deutlich weniger) Halbnackten, von denen man träumt, ihnen einmal – noch nackter – in die Augen schauen zu dürfen. Irgendwo entdecke ich schließlich ein Schild, das mehrsprachig – auch auf Deutsch – »Keinerlei Schwimmen« anordnet.
Ein Nicht-Schwimmer-Paradies, sozusagen. Ich kämpfe mich durch, auch durch die Beton-Gebirge, in denen das Volksvergnügen stattfindet, transpiriere, bis ich den Fluchtpunkt erreicht habe, den Strand, den wenig belebten. Dem Winter sei Dank.
Ich setze mich in den strahlenden Sand, lehne mich an einen einsamen Holzpfosten, zünde mir einen Zigarillo an und sehe sofort, dass ein Millionen Quadratkilometer riesiges Paradies vor mir liegt. Weil nichts mehr das Auge schmerzt. Ich zoome über das Meer auf den Horizont, der das Universum teilt. Unten blau, der Pazifik, oben hellblau, der Himmel. Sonst nichts, absolut nichts. Kein Mensch, kein Schiff, nicht eine Wolke. Und ich zoome zurück und aus dem rechten Off kommt ein Surfer, bronzefarben und schön wie ein Wassergott, und wedelt mit beispielloser Eleganz über die Wellen. Nur er im Bild, kein anderer. Wäre ich Frau, ich würde mich während der wenigen Sekunden in den Könner verlieben. Weil ich mir wohl unbewusst einbildete, er wäre auch außerhalb des Wassers elegant. Der Mann und sein Ritt entlang der schaumweißen Kronen sind ein Geschenk an die Welt, an jeden, der gerade das Glück hat, hier vorbeizukommen. Ich starre noch immer, auch dann noch, als er längst verschwunden ist. Das Paradies, wieder habe ich verstanden, ist immer irdisch.
Auf dem Rückweg durch die Heerscharen begegne ich einer der »world famous« (so werde ich gleich wissen) Surfers Paradise Meter Maids. Eine schöne Maid im goldblinkenden Bikini steht in der Fußgängerzone, augenblicklich umstellt von drängelnden Touristen, die sich mit ihr fotografieren lassen. Dann hat Stella (kurz) Zeit und gibt Auskunft. Die ersten Schönen mit Schärpe wurden 1965 engagiert, da – bitte festschnallen – die damalige Inbetriebnahme von Parkuhren zu einem öffentlichen Aufschrei geführt hatte und die Stadtväter und Ladenbesitzer fürchten mussten, dass das Paradise von den Besuchern aufgegeben wird, um sich woanders ein Paradies zu suchen. Ein parkuhrenfreies. Deshalb streifen seit über vierzig Jahren Bildhübsche mit Zweiteiler und Stöckelschuhen durch den Ort, immer auf der Suche nach Parkuhren, die abgelaufen sind. Und legen nach. Damit keiner aus Wut nie wiederkommt, damit – so kann man es im Prospekt nachlesen – »unsere Gäste und die Einheimischen länger beim Shoppen in unserem fabelhaften Shopping-Mekka bleiben«.
Ich habe dem Kapitalismus stets seinen Einfallsreichtum missgönnt. Jene Bauernschläue, die wie hier ein paar Cent investiert und gleichzeitig den (kärglich) Beschenkten die (dicken) Bündel aus der Tasche zieht.
Surfers Paradise verschafft Einsichten. Die Schönheit von Stella, die Schönheit des Meeres und die Bewegungen des Mannes, der auf ihm surfte, sie müssen nicht erklärt, nicht erobert werden. Man schaut hin und ist hingerissen. Anders jetzt: Nicht weit von der Parkuhr-Fee steht ein Buchladen. Kein Gedränge, niemand will mit der (durchaus ansehnlichen) Ladenbesitzerin fotografiert werden. Still und vollkommen unspektakulär liegen im Schaufenster die Bücher. Um ihre Schönheit zu erkennen, müsste eine Reihe von Hindernissen überwunden werden. Man muss Geld hergeben, man muss lesen können, lesen wollen, wissen wollen. Man muss Zeit haben, man muss Widerreden aushalten (des Autors), man muss kämpfen, denken, suchen, man muss beharrlich sein. Nichts von alldem, wenn die anderen Schönheiten auftreten, die Frauengesichter, die Männergesichter, ein Pazifik. Oder von irgendwoher – wie jetzt gerade – Nights in White Satin der Moody Blues zu hören ist. Der Genuss, das Entzücken kommen sofort. Alles flutet ungehindert in den Hypothalamus, ins Herz, in den Bauch, alles ist sofort erfahrbar. Die Wonnen sind kostenlos, sie verlangen keinen Verstand, keine Vernunft, keine Ausdauer, nicht mal ein einziges Wort Sprache. Wie ein Blitz fallen sie über uns her.
Leseprobe 2:
Ich wandere aus der Stadt, versuche einen Wagen zu stoppen. Nach wenigen Minuten hält ein junger Mann, der sich als Kevin vorstellt, ein Lehrer. Freundlicher Small Talk, für mehr ist keine Zeit. Nach 15 Kilometern verweist ein Schild auf das Myall Creek Memorial, ich steige aus, gehe ein paar Schritte landeinwärts und bin da. Die Gedenkstätte für Myall Creek ist der Grund, warum ich nach Bingara gekommen bin. Hier kann man was lernen, etwas zur Kenntnis nehmen. Oder nur dasitzen und den Mund halten. Am 10. Juni 1838 wurden nahe dieser Stelle 28 Frauen, Kinder und alte Männer getötet. Aborigines vom Stamm der Wirrayaraay. Aus bloßer Wut, bloßem Hass. Zu Tode gehackt von ehemaligen Kriminellen (convicts), die inzwischen frei gelassen worden waren und als Siedler und Landarbeiter das Land »eroberten«. Da standen die Ureinwohner, die Urbesitzer im Weg. Wie in Amerika die »Rothäute«, wie in Südafrika die »Kaffer«, so in Australien die »Menschenaffen«, die »Untermenschen«, die »Nigger«, diejenigen eben, die 50000 Jahre eher da waren.
Der von James Cook erfundende Begriff Terra nullius hatte mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Es war kein Niemandsland, da die Engländer von Anfang an auf Aborigines stießen. Als die Eroberer das realisiert hatten, rechtfertigten sie ihr rabiates Vorgehen mit dem Hinweis, dass die Insel »nicht verwaltet, dass keine administrative Struktur vorhanden war«, folglich keine rechtmäßigen Besitzer existierten. Erst zweihundert Jahre und Tausende Leichen später, immerhin, erklärte der Oberste Gerichtshof den Begriff für null und nichtig.
Auch das Aufstellen der Gedächtnisstätte hat gedauert, sie steht noch nicht lange. (Und wurde bereits geschändet und wieder repariert.) Ein 500 Meter langer, schlangenartiger Weg, heute sacred ground, führt zum Memorial Stone, einem mannshohen Granitblock, mitten auf weißem Grund, der Farbe der Trauer. Schöne Welt, der Geruch der Bäume, die Stille, nur das Flüstern einer leichten Brise. Und der Blick auf ein geschwungenes Land, Farmland, nichts als Natur, nur ein endloser Zaun und am Horizont ein paar Häuser.
Mit Berichten über Massaker und andere Bestialitäten könnte man in diesem Land ein Wohnhaus tapezieren. Aborigines-Kinder, die von Weißen bis zum Hals in Sand eingegraben wurden, um herauszufinden, wer von den Bluthunden am weitesten den Kopf wegkicken konnte. Männer und Frauen, denen man die Gurgel durchschnitt, um sich am Schauspiel der Schwerverletzten zu ergötzen, die von rasender Todesangst getrieben im Kreis taumelten. Und um jeden, der zusammenbrach, aber noch lebte, ins offene Feuer zu werfen.
Was Myall Creek so einmalig macht, ist – das klingt barbarisch – nicht so sehr, was mit den Opfern geschah, sondern mit den Tätern. Natürlich gab es zu dieser Zeit auch Menschen (a Mensch, im jiddischen Sinn) unter den Kolonisten, die Schwarze nicht als »Schimpansen« wahrnahmen, sondern als human beings. Einer von ihnen hieß William Hobbs, Vorarbeiter des Guts, auf dem die Barbaren angestellt waren. Er entdeckt das Verbrechen, forscht nach, meldet es den Behörden. Es kommt zu einem ersten Verfahren, in dem alle zwölf freigesprochen werden. Undenkbar die Idee, dass ein Weißer verurteilt werden soll für den Tod eines »Abos«. Das rassistische Geschrei des Mobs, der die Verhandlungen begleitete, hat sicher geholfen. Wie die Presse, der Sydney Morning Herald kommentierte: »Die ganze Bande schwarzer Tiere ist das Geld (der Verhandlung) nicht wert.« Aber es kommt zu einer Wiederaufnahme, sieben von ihnen werden gehängt. Australien wankt, auf das Schlachten von Tieren steht ab jetzt die Todesstrafe. Ein erster Sieg.
Leseprobe 3:
Nachdem ich eingecheckt habe, lasse ich mir den Weg zum nächsten Fast-Food erklären, der einzige Laden in der Umgebung. Ich tapse durch eine dunkle Vorstadt, vorbei an einer Bushaltestelle mit Betrunkenen, die am Boden liegen. Ich frage nach der Richtung und die zwölf Schwarzen lallen ein Englisch, das ich nicht verstehe. Weiterirren, bis ich an einer hell erleuchteten Autowaschanlage vorbeikomme, neben der ein Chinese Takeaway steht, Modell cheap & ugly. Romantischer kann es nicht werden.
Manche Städte vergisst man nie, weil man den Moment nicht vergisst, in dem man sie zum ersten Mal betrat.
Ich kaufe etwas und suche mir draußen in der warmen Abendluft einen diskreten Platz. Auf dem Boden, mit einer Hauswand als Rückenlehne. Und alles wird anders, wird tatsächlich romantisch. Die 44 Stunden Enge liegen hinter mir, ich habe ein Bett und etwas Warmes zu essen. Und eine Zeitung. Und entdecke einen Schriftsteller, von dem ich noch nie gehört habe. Eine Tatsache, die ich sogleich bedauere.
David Malouf wird vorgestellt, ein Australier mit libanesischen Vorfahren. Ich lese die Überschrift des Gesprächs mit ihm und bin am Ende des Satzes geheilt von den Nervenproben der vergangenen Tage und Nächte: »Lesen hat mit Entdecken zu tun. Du entdeckst, was dein Körper schon weiß, aber du selbst noch nicht verstanden hast.«
Das ist so wahrhaftig. Jeder mit einem Buch in der Hand ertappt sich bei dieser Erfahrung. Plötzlich kommt einer daher und sagt mir, dem Leser, wer ich bin. Mit den Worten eines Fremden dechiffriere ich mein Geheimnis.
Seltsam, ich dichte nicht, aber habe inzwischen ein halbes Tausend Gedichtbücher nach Hause getragen. Ich lese sie – abgesehen vom sinnlichen Genuss -, um Sprache zu lernen. Präziser als jede andere Form bringt mir Poesie bei, wie man keusch, sprich, sparsam mit Worten umgeht, eben die falschen Worte, das wären die entbehrlichen, links liegen lässt. Ich lese und lerne schreiben. Das neben dem Interview abgedruckte Gedicht des heute 73-Jährigen soll als Beweis dienen. Ich übernehme die Originalversion, eine Übersetzung würde die Anmut nur mindern. Auch wer nicht jedes Wort versteht, wird den Swing, den Zauber der Zeilen erfassen:
Revolving Days
That year I had nowhere to go, I fell in love – a mistake / of course, but it lasted and has lasted. / The old tug at the heart, the grace unasked for / urgencies / that boom under the pocket of a shirt / É / Revolving days. My heart / in my mouth again, I’m writing this for you, wherever / you are, whoever is staring into your blue eyes. It is me / I’m still here.
An diesem Abend – zwischen shampoonierten Autos und Schnellimbiss – werde ich mit Glück überhäuft. Und zuletzt mit Gekicher ins Bett geschickt. Der Reihe nach. Über meinen Weltempfänger kommt ein BBC-Beitrag. Der Reporter berichtet aus dem indischen Bundesstaat Kerala und von dessen Justizminister, den die revolutionär-aberwitzige Idee überkam, den Zuchthäuslern mit »music, poetry and literature« beizukommen. In der Absicht »to bring harmony into these men and to heal the beast in them«. Und so lädt er Musiker, Dichter und Autoren in die Verliese ein. Damit die Messerstecher und Meuchelmörder dem Wunder von Harmonie und Schönheit nah kommen. Damit ihre verlorenen Seelen über den Umweg der Kunst transzendieren. »Recht sprechen« will er, sagt der Revolutionär. Besser kann man es nicht definieren. Hat doch jeder ein Recht auf die Schätze der Welt. Auch einer, der sich bisher nur mit Stechen und Meucheln zu helfen wusste.
Hinterher das Gekicher, ich blättere wieder in der Zeitung und finde mein Horoskop, jedes Wort ist die reine Wahrheit: Gute Sterne beim Reisen. Du wirst zeitweise in die Irre gehen, aber am Ende bist du da, wo du sein wolltest. Am rechten Ort mit einem leichten Herzen.« Weiser konnte der Briefkastenonkel nicht hellsehen. Kichernd und glücklich lande ich tot im Bett, ganz einverstanden mit zehn dreckigen Fingern und zehn dreckigen Zehen.
Leseprobe 4:
Mit einem Minibus zum Ayers Rock, etwa zwanzig Kilometer entfernt. Ich bin kindisch und nervös, voll ängstlicher Vorfreude. Ankunft am Mala Car Park, ich steige aus und weiß, dass ich verlieren werde. Gegen den eigenen Vorsatz. Denn ich kam mit dem festen Willen, der Versuchung standzuhalten. Steht doch in allen Broschüren, dass die Aborigines nicht wünschen, dass der Uluru – so heißt das Gestein, seit es die Regierung 1985 offiziell dem Anangu-Volk zurückgab – bestiegen wird. Denn er sei sacred. Und hier, direkt vor uns, wird nochmals auf großer Tafel verkündigt: »Don’t risk your life! Listen! If you get hurt, or die, your mother, your father and family will really cry and will be really sad too. So think about that and stay on the ground.«
Der Warnruf räumt alle Zweifel aus. Denn ich weiß plötzlich wieder, dass ich weder Vater, noch Mutter, noch Familie habe, folglich niemanden, der um mich weinen wird. Das ist natürlich scheinheilig, aber nicht weniger scheinheilig als der Aufruf der traditional owners. Warum nicht einfach die Strecke nach oben sperren? Ohne Wenn und Aber. Die Antwort ist simpel und eine morgige Recherche wird meinen plötzlichen Verdacht bestätigen: Viele Besucher kommen nur, weil sie hinauf wollen. Und dürfen sie nicht mehr hinauf, kommen sie nicht mehr. Da schon das Betreten der Umgebung Geld kostet, würden enorme Einnahmen wegfallen. Die Moral, so einfach: Entweder man steht zu seinem Gewinnstreben und gibt den Weg frei. Oder man ist konsequent und sperrt zu.
Krönung der Heuchelei sind die Ratschläge – direkt daneben geschrieben -, um sicher den Zenit zu erreichen. Zudem wurden weiße Streifen aufgemalt, um den Weg nicht zu verfehlen, ja, eine Kette spannt sich entlang des ersten, schwierigsten Drittels, eine Art Geländer. Um nicht vom Wind verweht zu werden.
Noch ein Argument, das zum öffentlichen Ungehorsam aufrufen soll, jetzt ein ganz fundamentalistisches: Ich weiß nichts von heilig. (Naja, ein paar Shakespeare-Sonette dürfte man heiligsprechen.) Warum soll ein Stein heiliger sein als ein anderer? Der Bach, in dessen Nähe ich meine Kindheit verbrachte, ist auch heilig. Mir heilig. Die ganze Welt, wenn man so will, ist heilig. Oder – um diesen ölig-esoterischen Ton zu vermeiden – kostbar. Wertvoll allemal. Und zuallerletzt, entscheidend: Ich habe diese Abmahnungen satt, diese Infantilisierungs-Orgien. Ich werde krank davon, ich will nicht mehr hinhören, ich will los.
Schlecht vorbereitet, mit Straßenschuhen (je ein Loch) und dem kleinen Rucksack auf dem Rücken, voll mit dem Mac, Kabel, Büchern, Radio. Aber jetzt habe ich die richtige Wut im Leib, um meinen Schweinehund zu besiegen. Denn ich leide unter Höhenangst, hämmere mir ein, auf keinen Fall zurückzuschauen. Und ich schwöre, um jedem Vorwurf auszuweichen, keinen Kieselstein einzustecken, kein Stück Papier zu verlieren, keine einzige Spur zu hinterlassen.
Ich komme zügig vom Fleck, die raue Oberfläche macht es einfacher, bisweilen hilft tatsächlich die Kette, denn seltsam lau ist die Luft und seltsam plötzlich jagt der Wind. Unverzichtbar wird der Halt bei einem gemeinen 100-Meter-Abschnitt, der extrem schmal ist. Wer hier ausrutscht, landet erst tief unten wieder. Wann immer eine Hand frei ist, kämpft sie an der Nebenfront, der Fliegenpest. Ich überhole zwei tapfere Kinder und ihren tapferen Vater, bin froh, dass andere ebenfalls aufbegehren und auf ihr Recht pochen, sich am Leben zu fühlen.
Ich muss mir die Kraft einteilen, etwa 21/2 Stunden sind für den Aufstieg vorgesehen. Hat man den Teil entlang der Absperrung geschafft, geht es raufrunter und hinter jeder Felsendüne glaubt man sich am Ziel. Leute kommen entgegen, auffällig ihre frohen Gesichter. Nach einer Stunde und 43 Minuten sind wir beide oben, mein Bleifass auf dem Rücken und ich. 348 Meter tiefer liegt Australien. Für jemanden, der mit Schrecken von der Spitze einer Staffelei zurück auf die Welt blickt,
bin ich gerade ein Held. Ein glücklicher Held, denn über eine Minute lang bin ich allein, allein neben dem tonnenartigen Behälter, den die Australian National Survey Society aufgestellt hat. Sonst nichts, nur Luft, Wind und ein Himmel, unter dem die Wolken wie Luftschiffe treiben.
Und ein leises Lachen. Ich drehe mich und sehe hinter der nächsten Düne einen Frauenarm hervorlugen. Und natürlich bin ich taktlos und gehe auf ihn zu. Sekunden später weiß ich, dass ich es nicht hätte tun sollen. Denn ich sehe ein Liebespaar, er den Kopf in ihrem Schoß, sie ein Buch in der Hand, aus dem sie halblaut vorliest. Ich hasse meine Neugier und frage nach dem Titel, die beiden reagieren sanft: »Poroka z budo«, das ist, so höre ich, slowenisch und soll heißen: Hochzeit mit Buddha, geschrieben von Zhou Weihui. Ich ziehe meine in Ljubljana gekauften Zigarillos hervor, seit Jahren will ich wissen, was das Kajenje ubija auf dem Deckel bedeutet. »Smoking kills«, erklären die beiden kichernd. Na, das Übliche. Ich ziehe mich diskret zurück. Und rauche. Nur jetzt ein paar Nuancen weniger glücklich. Denn ganz oben auf dem Uluru verliebt sein und von einer Frau ein Buch vorgelesen bekommen, das ist der Gipfel des Glücks.
Leseprobe 5:
Um 19 Uhr 45 beginnt der Zirkus. Die Boxer stellen sich aufs Gerüst, das vor dem Zelt steht, Fred schlägt die Trommel, schreit und zieht an der Glocke. Und das Volk strömt aus allen Ecken der Dult heran. Fred ist ein Ass, er hat kein Wort erfunden, alles läuft, wie vor Wochen erzählt. Er preist seine Mannen an, einer heißt »Italian Stallion«, einer »Barramundi
Kid«, einer »Black Flesh«, natürlich der »Cowboy«, daneben »The Cracow Heartbreaker« und »White Lightning«, zuletzt der »Mask Mauler«, der angeblich so hässlich ist, dass er eine Maske tragen muss, um die »Ladys nicht zu erschrecken«. Fred plärrt ins Mikrofon, reißt Sprüche, provoziert das Männervolk, indem er es auffordert, die mitgebrachten Girls festzuhalten, denn jetzt seien »die echten Kerle in Mount Isa eingetroffen«, erklärt die Bedingungen, tröstet die zukünftigen Verlierer, indem er vom blauen Auge als »Zeichen der Ehre« schwärmt, trommelt, bimmelt, ruft die Herausforderer zu sich aufs Podest, fragt sie, gegen wen sie antreten wollen, fragt nach ihrem Beruf, Ausfahrer, Bergmann, Schlosser, Farmer, Arbeitsloser, rasselt wie ein Conferencier, zählt die Amateure nach, sieben, zählt seine Profis nach, sieben, brüllt »O.k., let’s see the show« und weist zum Eingang. Und ruckartig drängeln die Schaulustigen dorthin, wo Sandi steht, Freds Frau, die Money-Frau. Über dem linken Unterarm trägt sie eine Großmutter-Tasche – Logo: Sandi Brophy’s Boxing Troupe – und in beiden Händen hält sie die Scheine.
Zum Wechseln. Tickets gibt’s nicht, Geld her, 10 AU$, in Windeseile wächst der Haufen im großen Beutel. Zwei Männerschränke neben Sandi sorgen dafür, dass alle brav zahlen.
Full House, die ersten Reihen sitzen am Boden rund um die Matte, der Rest steht, die Erde voller Sägespäne. Gäbe es kein elektrisches Licht, man könnte glauben, im Mittelalter gelandet zu sein. Vor den zwei Holzpfeilern, die das Zelt stützen, steht je ein Stuhl, für die beiden Kontrahenten. Das folgende Muster wiederholt sich und erzeugt immer aufs Neue eine geradezu kindliche Freude. Die Profis legen ihre Profibademäntel ab, die Amateure ihre Holzfällerhemden. Und mächtige Tattoos auf mächtigen Oberarmen kommen zum Vorschein, dazu wildes Körperhaar und randvolle Outback-Bäuche, bisweilen aber auch der ansehnliche Torso eines jungen Kerls, muskelfest, ziseliert, ästhetisch. Bandagen und Handschuhe anlegen, Fred, der Ringrichter, gibt kurze Anweisungen – »Nicht klammern! Nicht unter die Gürtellinie!« -, der Mundschutz wird verpasst, Ring frei zur ersten Runde, zur ersten Minute.
Gemäß den noblen Regeln der World Boxing Federation wird hier nicht gekämpft, aber sie kämpfen. Und die Zuschauer sind fast immer aufseiten des Verlierers. Weil er die Ordnung in Frage stellt, weil er mehr Schneid hat, weil er das größere, das schmerzhaftere Risiko eingeht. Und weil er Gelächter und Bombenstimmung auslöst: Mit Wucht ausholen und mit dem Bauch voraus ins Leere stolpern. Und bauchlanden. Auf dem falschen Fuß aufkommen und in die Ränge krachen. Und lachend wieder hochkommen. Boxen mit Catchen verwechseln. Oder dastehen und fünf, sechs, sieben Gerade kassieren und nicht umfallen, dabei umtost und gefeiert werden.
Wer dann doch auf der Fünf-Mal-Fünf-Meter-Gummiunterlage landet, in deren Mitte das Logo einer Biermarke steht, hart landet, wird ausgezählt und bekommt – wenn wieder auf den Beinen – von Fred die mit allen fünf Fingern gespreizte Rechte vorgehalten. Damit der von Kinnhaken und Promille Vernebelte »five« sagen kann. Schafft er das, darf er weiterverlieren. Geht er dreimal in die Knie, ist die Partie automatisch zu Ende. Selten fliegt das Handtuch, denn hier wollen sie zeigen, dass sie als Männer auf die Welt kamen. Verlierer o.k., aber keine Aufgeber, keine Memmen.
Das klingt befremdlich, aber die Raufereien haben etwas Völkerverbindendes. Auch Aborigines treten an. Doch nicht als black on white oder white on black, sondern einer gegen einen anderen. Sie hauen sich, sie prügeln sich, aber jeder wird fair – auch das ein Verdienst von Fred – behandelt. Für ein paar Minuten kommt hier im letzten Boxerzelt von Australien die Illusion auf, dass nichts als die eigene Leistung zählt. Mann gegen Mann, nicht Völkerhass, nicht Völkerschlacht, nein, nur zwei, die einander messen.
Eine Minute Pause. Freds Leute coachen auch die Gegner. Wasser auf die Köpfe, Spange raus, Mund spülen, Vaseline ins Gesicht schmieren (damit die Schläge abgleiten), Luft zuwedeln, schnelle Ratschläge: Hände vors Gesicht! Nie die Deckung vergessen! Warte, bis du nah genug bist!
Und einer der Frischlinge (aus dem Publikum) beherzigt das. Und sein Gegner, der Profi, beginnt zu wanken. Und da kommt Fred, der Ringrichter und Fuchs, ins Spiel. Ab jetzt nicht ganz so fair. Denn er muss zahlen, wenn der Fremde gewinnt. Doch nicht zahlen, wenn das Ergebnis nicht eindeutig ist, sagen wir, für Fred nicht eindeutig. Da jetzt ein Unentschieden ausrufen zu riskant wäre, fragt er – schön heuchlerisch – die 250, wer gewonnen hat. Und viele schreien für den einen und viele für den anderen. Das passt Fred bestens, das Durcheinander kann nichts anderes als draw bedeuten, punktgleich, sprich, kein Schein wird Sandis Geldkoffer verlassen. Und so endet unter fröhlichem Gejohle die erste Show.
Kurz nach 21 Uhr Rückzug ins Lager, jemand verteilt Bier und Eiswürfel, um die verbeulten Visagen zu beruhigen. Im Hintergrund leuchtet das Riesenrad, man hört das Knallen aus den Schießbuden, die Nacht ist hell, genau jener Ausnahmezustand, den sie in amerikanischen Filmen romance nennen. Die Welt ist gerade so, wie sie sein soll.
Leseprobe 6:
Das wird eine besondere Nacht. Nach dreieinhalb Stunden Flug um 1 Uhr früh ankommen, um 2Uhr 20 endlich auf der Kings Street nach meiner Absteige suchen. Das muss die wöchentliche Saufnacht in Melbourne sein, denn die derbsten Weiber – fett, laut, kotzend – der westlichen Hemisphäre torkeln über den Bürgersteig. Tatsächlich kaum Männer zu sichten. Wohl irgendwo als Bierleichen auf der Strecke geblieben.
Ich finde meine Unterkunft, läute. Wie bei Backpackers nicht anders zu erwarten, öffnet niemand. Trotz des Hinweises auf einen 24-Stunden-Service bei meiner (zweimaligen) telefonischen Reservierung. Ich suche einen öffentlichen Apparat, um die neben die Tür geklebte Mobil-Nummer anzurufen, »in the case that nobody opens«. Aber keiner hebt ab. Wieder zurück, wieder läuten, warten, hämmern. Bis ein Gast herauskommt und verspricht, die zuständige Schlafmütze zu wecken.
Trouble is my middle name, die Prüfungen hören nicht auf. Die Schnarcheule will mich in einen Schlafsaal stecken (weiß einer Höllischeres?), obwohl ich einen single room gebucht habe. Man könne nicht nachschauen, so die Erklärung, welcher Raum frei sei, da der Computer nicht funktioniere. Ich werde noch grämlicher als vor zwanzig Minuten. Deprimiert schon der Anblick von Hässlichkeit, so haut einen die anschließende Begegnung mit Dummheit endgültig k. o. Folglich spreche ich ab sofort eine Spur gereizter. Das hilft. Die Pfeife hat den Mumm und öffnet behutsam ein Zimmer. Und siehe, es ward frei. Ich frage den Nachtwächter noch, warum niemand ans Telefon ging, als ich die ausdrücklich dafür vorgesehene Nummer wählte.
Er: Der Computer ist kaputt.
Aber ich habe doch ein Handy angerufen, völlig unabhängig von einem Computer.
Das gleiche Problem, der Computer ist kaputt.
Der Rest ist Schweigen, ich lege mich ins Bett. Der grölende Pöbel von der Straße, zwei Stock tiefer, erinnert mich daran, dass heute kein Glückstag zu Ende geht.
Am nächsten Morgen ist alles anders. Sogar die Kotzflecken sind verschwunden. Melbourne, die Knapp-vier-Millionen-Hauptstadt des Staates Victoria, macht alles wahr, was ich von anderen in Form von Preisreden und Lobeshymnen gehört habe. Die Sonne strahlt und der erste Mensch, der mir um 8 Uhr 31 begegnet, sagt nicht »How is it going, mate?«, nein, er redet wie alle, die einen Grundkurs in Zivilisationskunde hinter sich haben, er sagt: »Good morning, sir, how are you?« So spricht der Kellner in dem Lokal, wo es ein Frühstück gibt. Und selbstverständlich antworte ich: »Thank you, I am fine.« Mir ist, als hielte ich ab sofort einen Garantieschein in Händen, dass ich die Tage in Melbourne wie eine Eroberung nach Hause tragen werde.
Ich ziehe los, kein Ziel vor Augen, will nur wieder den Geruch einer Großstadt genießen, die Geräusche, die Kulisse für die Geräusche, das Quietschen der Trambahnen, die durch Häuserschluchten ziehen, die Vexierspiele auf den Glasfassaden der Wolkenkratzer, den sonnenhellen Lichtkegel zwischen zwei Häuserecken, durch den eine elegant gekleidete Frau eilt, die Fensterputzer in schwindelnder Höhe, die lässigen Kringel der Raucher im Gegenlicht, die auf Terrassen ihren ersten Kaffee trinken.
Und irgendwann höre ich Musik, komme näher und sehe einen dünnen Mann mit einer spanischen Gitarre zwischen zwei Verstärkern stehen. Und flüchte instinktiv auf die andere Seite. Weil ich schon vor langer Zeit beschlossen habe, das Geklimper der Talentlosen nicht mehr auszuhalten. Aber ich drehe mittendrin um, mitten auf der Straße. Weil hier ein Talentierter aufspielt. Weil auch Santana sein Samba Pa Ti nicht besser interpretieren könnte. Ich kehre zurück, setze mich auf eine Bank und bin nur einer von vielen, die jetzt nicht weiterwollen, ohne dem Langhaarigen zuzuhören, der lässig entlang dem Hals seiner Gitarre zaubert. Leute hasten – und bleiben stehen. Eine ältere Dame im Rollstuhl fährt mit ihrem Hund heran und beide halten still und lauschen. Der Musiker redet nicht, keine Erklärung, kein Hinweis, kein Wort, kein Titel. Dafür Bésame mucho, zwei Stücke aus Vivaldis Vier Jahreszeiten, von den Stones die Schmelzkeule Angie, die Filmmusik aus Exodus, Stings The shape of my heart. Musik als Muttersprache.
Über eine halbe Stunde haben wir Zuhörer Gelegenheit, die kleinen Ohnmachten der Begeisterung zu erfahren. Wobei ein Schreiber nebenbei noch die Attacken der Missgunst ertragen muss. Weil der Dünne etwas kann, was niemand »übersetzen« muss.
Emily Dickinson, die amerikanische Dichterin, notierte einmal: »Ein Wort kann dich überschwemmen, wenn es vom Meer kommt.«
Sehr wahr, aber es überschwemmt den Leser erst, wenn er es versteht, wenn das Wort in einer Sprache auftaucht, die er kennt. Ganz anders mit Noten. Jeder, der jetzt an dem Alchemisten mit seinem Instrument vorbeikommt, erhält einen Trost, eine Sehnsucht, eine Erinnerung, einen Swing. Ohne dass ein einziges Wort fällt. Und würden die Vertreter aller fünftausend Sprachen zuhören, jeder würde »verstehen«. Auf seine Weise.
Musik ist nur Musik, sie braucht nur sich. Sie hat keine Geschichte zu erzählen, keine Wahrheit zu verkünden, sie ist nie dumm, sie kann nicht lügen, auf mysteriöse Weise vermehrt sie jedermanns Glück. In Hochform holt sie uns zurück in einen Zustand, der uns mit allem versöhnt. Wer also wollte nicht tauschen mit einem, der jedem in seiner Nähe den Kopf verdreht, das Herz. Was müsste ich als Schreiber aufführen, um Wildfremden so nahezukommen, dass sie innehalten und dableiben. Mitten im Großstadtlärm.
Schräg gegenüber haben Adventisten einen Stand aufgebaut. Man will sie fast bemitleiden. Denn keiner streift sie mit einem Blick. Keiner will momentan wissen, dass die baldige »Wiederkunft Christi« bevorsteht. Denn alle Augen sind auf Santos (seinen Namen werde ich bald erfahren) gerichtet, alle Ohren, jede Faser Aufmerksamkeit. Auf jenen, der nichts verspricht, der nur linkisch dasteht und an sechs Saiten zupft. Wie beruhigend, dass das Weltliche, die Welt noch immer den Sieg davon trägt über die Reden vom Jenseits. Spürt doch jeder Anwesende, dass wir uns gerade im Paradies befinden. Nicht für immer, aber für eine kurze, flüchtige Zeit befindet sich der Himmel an der Ecke Bourke/Elisabeth Street.
Als der Wunderknabe aufhört, gehe ich auf ihn zu. Wir reden. Santos lebt schon lange als Italiener in Melbourne, hat eine Band, tourt. Er liebt die Stadt, liebt den Kontakt zur Straße, er sagt, dass ihn kein anderes Ziel im Leben bewegt, »als schöne Dinge zu tun«. Um mich für das Schöne zu revanchieren, biete ich ihm ein Gedicht von Salvatore Quasimodo an, das mir vor Minuten wieder einfiel. Einfallen musste. In der Originalversion. Ich kann die Sprache nicht, aber die paar Zeilen, die weiß ich auswendig. Doch um ein Haar wäre ein Mord passiert, denn Santos hat noch nie von seinem Landsmann gehört, jenem italienischen Gott, der sich als Dichter verkleidete und 1968 als 67-Jähriger in Neapel starb. Ich lasse nur ab vom Meucheln, weil Santos verspricht, noch heute nach dem Gewinner des Literatur-Nobelpreises (1959) zu googeln, zudem spüre ich, dass ihm die Strophe nah geht. O.k., ich kann weder Musik noch Gedichte produzieren. Aber ich kann immerhin ein Wunder aufsagen und es herschenken:
Ognuno sta solo sul cuor della terra
trafitto da un raggio di sole:
ed è subito sera
Ein jeder steht allein im Herz der Erde
getroffen von einem Sonnenstrahl:
und gleich ist es Abend
7. Leseprobe:
Am nächsten Morgen hat das Exil ein Ende, ich darf früher fort als Gary, ein Bus evakuiert mich nach Sydney. Dennoch, auf Canberra hätte ich nicht verzichten wollen. Reisen hat mich noch nie als Veranstaltung interessiert, auf der man »schöne Eindrücke« sammelt. Reisen soll beuteln, verwirren, die Weltwachheit in mir schüren. Eine missratene Reise ist nur jene, nach der ich sonnenbraun und ahnungslos wie vor der Bräune wieder zu Hause ankomme. Außerdem: Hat mich die Hauptstadt nicht beschenkt? Mit der Liebesgeschichte von Percy und Nellie? Mit einem der exquisitesten De-Luxe-WCs im Universum? Mit einem Film, an dessen Ende sich jeder Zweite die feuchten Augen wischte? Mit einem Busfahrer, der einmal Mensch war und nun als Androide unterwegs ist. Ist das nicht auch eine Geschichte, die zum Mitgefühl verleitet? Mit ihm, mit allen wie ihm? Und zur Wachsamkeit uns gegenüber aufruft? Damit wir nicht auf einen ähnlichen Untergang zusteuern.
Ruhige Fahrt. Das Land und der Himmel leuchten, im Radio kommt die Nachricht, dass ein Greyhound-Fahrer und ein rasend gewordener Passagier – mitten im gestrigen Nachmittagsverkehr – um die Übernahme des Steuerrads kämpften und der Rasende zuletzt überwältigt wurde. Und dass hinterher die Polizei anrückte, um die (angeblich) versteckte Bombe zu finden.
Wir haben es leichter. Keiner droht, uns in die Luft zu sprengen, Australien ist wieder einmal bildschön und als wir 31/2 Stunden später ankommen, weiß ich sofort, dass ich Abbitte leisten muss. Sydney leuchtet auch, der Frühling blüht, die Australierinnen blühen, wo immer ich den Kopf hinwende, oft sieht er etwas, wovon er den Blick nicht lassen will. Das hat sicher (auch) mit der Tatsache zu tun, dass nach einem Aufenthalt in C. alles nur beschwingter, farbenfroher (froh!), sinnlicher werden kann. Zudem nimmt mein vom Stress traktierter Leib dankbar zur Kenntnis, dass er die knapp 25000 Kilometer ohne größere Beulen und Niederlagen überstanden hat. (Vom kommenden K. o. weiß er noch nichts.)
Ich deponiere das Gepäck auf meinem Hotelbett und begrüße sechzig Meter weiter Cenel, den Fast-Food-Türken, dem ich an einem regenverseuchten, eiswindigen Tag vor drei Monaten ein Hikmet-Gedicht aufsagte. An jenem Tag, als ich Sydney noch hasste. Cenel leuchtet auch, für die sechs Zeilen über die Brüderlichkeit wird er mir bis zum Lebensende ein Lächeln schenken. Sprache kostet nichts und kann zaubern. Wobei wir noch immer keine Ahnung haben, wie sie das macht.
(…) Das ist mein letzter Nachmittag, rechts das blaue Meer, oben der blaue Himmel. Ich wandere durch den paradiesischen Hyde Park zum Kings Cross, will nur schauen, niemanden mehr treffen und ausfragen, will mir einen ersten freien Tag gönnen, einen ersten freien halben. In einer schmalen Nebenstraße, ein paar Ecken weg von den Nutten und Kaputten, stehen ein paar Bäume auf dem Trottoir. Ich setze mich, lehne mich an eine Kastanie, rauche, bin nichts als ein glücklicher Mensch.
Bis sich schräg gegenüber die Balkontür einer kleinen Villa öffnet. Rein zufällig habe ich sie bereits im Blick, sehe deshalb den leicht überraschten Ausdruck im Gesicht der Frau, die jetzt heraustritt. Wahrscheinlich sitzt nicht jeden Tag ein Wildfremder unter dem Baum. Drei, vier Sekunden dauert der Augenblick. Bis sie sich abrupt abdreht und die Tür hinter sich schließt.
Wie dunkle Schlangen fiel ihr Haar auf die Schultern. War es dieser Blick, den ich so gut aus Paris kenne, dieser Blick einer Schönen, in deren Nähe Männer nur als Staffage auftreten? Die einzig den Augenkontakt sucht, um sich ihrer Stärke, ihrer Vehemenz zu versichern? Schau, wie wunderschön ich bin! Die immer wieder wissen, ja genießen will den Anblick einer Niederlage, einer stummen Ergebung vor ihr, die aussieht wie keine weit und breit?
Während ich noch immer das Haus betrachte, fällt mir ein Lied ein, das ich vor Wochen auf der Reise im Radio gehört habe. Es war Tage, nachdem jemand Preverts Gedicht Rappelle-toi Barbara vorgelesen hatte, und ich noch dachte, dass es imaustralischen Rundfunk einen frankophilen Verrückten geben muss. Ein altes Chanson wurde gespielt, neu interpretiert von Francis Cabrel, einem Star in Frankreich: Les Passantes. Da ist die Rede von einem anderen flüchtigen Blick zwischen Mann und Frau, einem anderen Moment der Innigkeit. Jenem, dem alle, aber Reisende wohl öfters, begegnen. Irgendwann, irgendwo, bisweilen.
Das Lied ist ein Meisterwerk, in dem der Text und die Melodie, die jedesmal ein Herzflimmern auslöst, fugenlos zusammenpassen. Jeder Buchstabe fügt sich zu jedem Ton. In den fünf Minuten und zwei Sekunden wird von Blicken erzählt, die nicht hochmütig sind, nicht schlingernd, nicht gierig, nicht Bewunderung fordernd. Eben jene Bruchteile von Zeit, in denen ein Mann an dem Gesicht einer Frau vorbeigeht, die an einem Fenster steht, am Fuß einer Treppe, auf der anderen Straßenseite.
Nur dieser kurze intensive Moment, nur dieser eine kurze Blick in ihre Augen, dann verschwinden sie, verschwinden aus dem Leben des Mannes.
Und er rennt nicht hinterher, sucht sie nicht. Aus vielen Gründen. Aus Mutlosigkeit, weil jene Frau kein Sehnen nach Nähe signalisierte, weil ein Zug wartet, ein Flugzeug. Beide werden den Blick vergessen, normalerweise. Ein paar sinnliche Gedanken werden, vielleicht, die nächsten Tage (und Nächte) zu ihm zurückkehren. Dann ist er weg. Entsorgt wie so vieles, von dem man nur blitzhaft erfuhr.
Doch in den letzten Strophen kommt die Moral des Chansons zu Wort, leise Moral, eher poetisch: »Mais si l’on a manqué sa vie«, aber – so beginnt sie – wenn man sein Leben vertan hat, genauer übersetzt, wenn man zu viel geträumt, zu oft verzagt auf die Zukunft gewartet hat, dann wird man sich an den Abenden der Einsamkeit dieser Lippen und Küsse erinnern, um die man nicht zu bitten wagte, an diese Augen all jener »belles passantes«, die man an sich vorübergehen ließ.
Erstveröffentlichung 2008
Im Land der Regenbogenschlange – Unterwegs in Australien
Dumont Verlag
Kurzbeschreibung
Andreas Altmann startet in Sydney und kommt nach drei Monaten dort wieder an. Mit 25 000 Kilometern in den Beinen und einem Ranzen voller Storys von Männern und Frauen, die er unterwegs getroffen hat. Er hört Geschichten, die erstaunlich viel über das Leben auf dem fünften Kontinent verraten. Er begegnet Erin, der 18-jährigen Amazone, die mit elf per Motorrad von Zuhause abhaute. Er findet Jeffrey, den Aborigine, der fünf Milliarden Dollar erben könnte, aber nicht will. Und er zieht mit Fred Brophy und seinen kriminellen Preisboxern durch das Outback. Drei von dreihundert Begegnungen.
Einmal mehr erweist sich Andreas Altmann als begnadeter Augenöffner, der nicht aus sicherer Distanz agiert, sondern sich aussetzt: mal intensiv und hitzig, dann wieder ehrfürchtig und einfühlsam. Wer dieses Buch liest, kehrt klüger, glücklicher und leicht benommen nach Europa zurück, das Herz und den Kopf voller Bilder und Unglaublichkeiten.